Massenkündigung am Claragraben: Seniorin kann nicht mehr schlafen
Nach fast 40 Jahren verlieren Anna* und ihre Familie ihr Zuhause. Die Hausbesitzerin, eine grosse Investmentfirma, hat ihnen und allen weiteren Bewohner*innen am Claragraben 82/84 gekündigt.
Anna* meldet sich über die Gegensprechanlage und macht mit dem Summer auf. Im zweiten Stock empfängt sie uns mit ihrem Vater. Anna wohnt seit 35 Jahren in dem Haus, seit sie mit zehn Jahren in die Schweiz kam. Seit 21 Jahren ist sie die Hauswartin, davor habe ihr Vater den Posten jahrelang innegehabt. Ihre Eltern leben schon seit 1986 hier, mit ihnen teilt sie eine 3-Zimmer-Wohnung.
Vor ein paar Wochen haben sie und die anderen Mieter*innen die Kündigung erhalten: Das Wohnhaus im Claragraben mit der Nummer 84 soll saniert werden, alle Mieter*innen müssen dafür bis zum 31. März 2023 raus. Das Gleiche gilt fürs angrenzende Nachbarhaus mit der Nummer 82. Insgesamt sind 46 Mietparteien betroffen.
Der Vater holt den Brief der Adimmo AG, er ist auf den 12. Januar 2022 datiert. Betreff: Kündigung des Mietverhältnisses aufgrund Sanierung mit Umbau. Zwei Blatt Papier, die das Leben der Familie für immer verändern.
Im Schreiben steht etwas von «tiefgreifender Sanierung mit einem weitgehenden Umbau», es werde Eingriffe in die Grundrissstruktur geben, die gesamte Haustechnik, alle Leitungen sollen erneuert werden. Kurz: Das Gebäude wird entkernt, nur der Rohbau bleibt stehen. Die Baubewilligung soll voraussichtlich im 2. Quartal dieses Jahres vorliegen.
(Update 15.02.22) Der Mieterverband betont, dass jedoch juristische Möglichkeiten vorhanden und in Form mehrerer Einsprachen genutzt worden seien, um eine Kündigung zu verhindern oder die Frist bis zum Auszug zu verlängern – die Chancen dafür stünden nicht schlecht. Ausserdem haben die Verhandlungen des Mieterverbands mit der Investorin noch nicht begonnen, der 31. März 2023 als Auszugsdatum sei deshalb noch nicht in Stein gemeisselt.
«Nachts kann ich nicht schlafen»
Ein paar Türen weiter, auf dem gleichen Stockwerk, wohnt eine ältere Dame mit ihrem Mann. Anna klopft, noch bevor jemand reagieren kann, klingelt sie. Eine freundliche Frau mit grauem, leicht gelocktem Haar öffnet die Tür. Die beiden kennen sich schon lange, Anna erklärt, worum es geht. Bei der Seniorin sitzt der Schock über die gekündigte Wohnung noch immer tief. «Tagsüber geht es, aber nachts kann ich nicht schlafen und frage mich die ganze Zeit, wo wir hinsollen», sagt die 69-Jährige. Danach fehlen ihr erst einmal die Worte.
Seit knapp 40 Jahren lebt sie mit ihrem Mann in dem Haus, seit 1995 in der jetzigen Wohnung – so steht es auf dem Papier in ihrer Hand. Mit Nebenkosten zahlen sie für ihre 58 Quadratmeter, aufgeteilt auf zwei Zimmer, Küche und Bad, knapp 1000 Franken. «Ich hoffe, wir finden etwas anderes. Die Wohnungen sind jetzt so teuer.» Ein junger Mann helfe ihnen bei der Suche, sie würden sich ja nicht auskennen. Eine neue Wohnung musste das Ehepaar seit vier Jahrzehnten nicht finden.
Am Ende des Briefes der Adimmo AG heisst es: «Wir gehen davon aus, dass es Ihnen aufgrund der frühzeitigen Anzeige und der Ihnen dadurch zur Verfügung stehenden Zeit möglich sein wird, eine Ihren Vorstellungen entsprechende neue Wohnung zu finden. Wir bitten um Ihr Verständnis.»
Von einer vergleichbaren Ersatzwohnung, möglicherweise aus dem Kontingent der Wohnungsverwaltung, ist keine Rede. Anna glaubt nicht, dass ihre Eltern, 68 und 70 Jahre alt, eine zufriedenstellende Wohnung in Basel finden werden. Schliesslich sind die Mieten in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Für die 1300 Franken, die sie momentan für ihre 80 Quadratmeter grosse 3-Zimmer-Wohnung inklusive Nebenkosten zahlen, werden sie wahrscheinlich kein vergleichbares Heim finden.
Die Adimmo AG steht für eine Stellungnahme nicht zur Verfügung und verweist an die Eigentümerin, die Investorenfirma Fundamenta mit Sitz im Kanton Zug. Wie unsere Daten der «Wem gehört Basel»-Recherche zeigen, gehören der Firma in Basel 210 Wohnungen an fünf Adressen, laufend auf Fundamenta Group Investment Foundation und Fundamenta Real Estate AG. Die Baujahre liegen zwischen 1931 und 1968, es handelt sich also eher um ältere, früher oder später sanierungsbedürftige Häuser. Das Haus am Claragraben wurde im Jahr 1962 gebaut, es wird 60 Jahre alt.
Sind die Wohnungen und das Haus denn renovierungsbedürftig? Es stimme, jahrelang sei nichts gemacht worden. «Beim Bad und in der Küche könnte es schon Verbesserungen geben und die Leitungen sind auch alt. Aber wir hatten nie Probleme und der Zustand ist nicht so, dass wir ausziehen müssten», sind sich beide Nachbarinnen einig. Sie verstehen nicht, dass sie ihr Zuhause aufgeben müssen, in dem sie sich immer noch wohl fühlen. «Alle im Haus sind enttäuscht», sagt die Pensionärin. Sie zeigt ihren Flur, von dem aus man einen guten Blick in Küche und Bad hat. Seit sie hier wohnt, habe es keine Renovierungen gegeben. Die Plättli und die Ausstattung sind alt, sie stört das nicht.
Wir reden so lange, dass Anna mehrmals den rot leuchtenden Lichtschalter auf dem fensterlosen Gang drückt, damit wir wieder etwas sehen.
«Mein Eltern haben 40 Jahre hier im Haus und im Quartier gelebt. Jetzt heisst von heute auf morgen ‹Ciao›», erzählt Anna. «Sie haben ihre Migros, zu der sie immer gehen und ihre Ärzte in der Nähe. Meinen Eltern wird es sehr schwer fallen, sich woanders einzuleben. Es belastet sie schon jetzt, dass sie ihren Keller ausräumen und alles sortieren müssen. Nach so langer Zeit. Wo sollen sie denn hin?» Es geht um mehr als ein paar Räume, für die man Miete zahlt. Es geht um ihren Rückzugsort, den sie fast 40 Jahre lang ihr eigen nannten.
Noch im November neue Mieter*innen
Anna erzählt von anderen Mieter*innen, die erst im vergangenen November eingezogen seien. «Die wussten auch nichts von den Sanierungsplänen. Darunter ist ein altes Ehepaar, der Mann über 80 und krank – für die ist es eine grosse Belastung, jetzt schon wieder umziehen zu müssen.» Eine andere Nachbarin habe zwei Kinder, wenn sie umziehen, müssten sie eine neue Kita und eine neue Schule finden. Weder Fundamenta noch Adimmo nehmen Stellung zu dem Vorwurf, die neuen Mieter*innen nicht informiert zu haben. Das Baugesuch für die Liegenschaft im Claragraben wurde im Dezember 2021 eingereicht.
Im Oktober oder November 2021 sei jemand vorbeigekommen, um den Zustand der Wohnung zu kontrollieren, sagt Anna, Bohrungen seien gemacht worden. Als sie damals nachgefragt hatte, habe es aber geheissen, eine Renovierung stehe frühestens in zwei bis drei Jahren an.
Jetzt kommt es anders.
Jetzt Bajour-Member werden und unabhängigen Journalismus unterstützen.
Im Schreiben der Adimmo AG werden die Sanierungen damit begründet, dass Bausubstanz und Energieverbrauch «den heutigen Ansprüchen und auch der zukünftigen Ausrichtung der Liegenschaft nicht genügen». Fakt ist: Noch werden die Wohnungen für relativ wenig Geld vermietet. Nach der Totalsanierung kann von den neuen Bewohner*innen ein deutlich höherer Mietzins verlangt werden.
Wir haben Fundamenta um eine Stellungnahme gebeten und konkrete Fragen zum Umbau und der Kündigung im Claragraben gestellt. Die Firma bedankt sich für das gezeigte Interesse an der Liegenschaft, «die wir tiefgreifend sanieren müssen. Zurzeit können wir Ihnen leider keine weiteren Informationen zu unserem Sanierungsprojekt geben», teilt der zuständige Manager mit. Gerne hätten wir gewusst, ob die Firma derzeit ähnliche Sanierungen in Basel plant oder bereits angekündigt hat. Auch dazu haben wir keine Antwort bekommen.
Für die aktuellen Mieter*innen im Claragraben 82/84 macht das keinen Unterschied. Sie müssen ihr Zuhause in knapp einem Jahr verlassen – sollten die Einsprachen und Verhandlungen nicht erfolgreich sein.
Hast du in den vergangenen Wochen eine Kündigung bekommen und musst aus deiner Wohnung ausziehen? Oder besitzt du eine Liegenschaft und findest es schwierig mit dem Sanieren? Melde dich unter [email protected] und erzähle uns deine Geschichte.
__________
*Name geändert, voller Name ist der Redaktion bekannt