Frau Bütikofer, ist unsere Gesellschaft gespalten?
Der Pulverdampf aus dem Abstimmungskampf um das Covid-19-Gesetz liegt noch in der Luft, da bringen sich die Gegner*innen bereits gegen die nächste Vorlage in Stellung. Aber taugen Coronamassnahmen und das Mediengesetz als gemeinsamer Feind? Ein Interview über die Temperatur der politischen Debatte in der Schweiz.
Frau Bütikofer, da zuletzt viel darüber gewerweisst wurde: Ist unsere Gesellschaft gespalten?
Die Analysen von Sotomo während der Pandemie im Vorfeld der Abstimmung über das Covid-Gesetz haben schon gezeigt, dass viele Menschen in den letzten Monaten auch im Privaten Konflikte und Auseinandersetzungen erlebten. Da aber nur 1,5 Kantone, nämlich Schwyz und Appenzell Inerrhoden, das Covid-Gesetz ablehnten und der Ja-Stimmenanteil ja in vielen Kantonen recht hoch war, kann man kaum von einem völlig gespaltenen Land sprechen.
Was heisst denn gespalten?
Eine gespaltene Gesellschaft kennt man vielleicht aus den USA, wo sich zwei einigermassen gleich grosse Blöcke unversöhnlich gegenüberstehen und sich in kaum einer Frage mehr finden. In der Schweiz sind wir weit davon entfernt. Wir kennen nach wie vor das System der immer neuen Suche nach Allianzen bei konkreten Sachvorlagen.
Auf Gemeinde-Ebene präsentiert sich die Abstimmungskarte weniger eindeutig. Zeigt sich die Spaltung eher im Kleinen?
Die Abstimmung zum Covid-Gesetz hat in ersten Analysen einen starken Zusammenhang zwischen kantonaler Impfquote und Nein-Stimmenanteil hervorgebracht. Die Deutlichkeit dieser Konfliktlinie ist schon neu, aber ein Impfgraben war vorher schon da. Der zeigte sich auch früher zwischen eher ländlichen und städtischen Gebieten.
Sarah Bütikofer ist Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Schweizer Politik und Parlamentsforschung. Sie ist Herausgeberin von DeFacto und Projektpartnerin beim Forschungsinstitut Sotomo. Sie hält Lehrveranstaltungen an verschiedenen Universitäten der Schweiz.
Zur Zeit leitet sie zusammen mit der Politologin Stefanie Bailer eine Lehrveranstaltung zum politischen System der Schweiz an der Universität Basel.
Was ist das für eine Konfliktlinie?
Die Konfliktlinie trat auch schon beim Epidemiengesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen 2010 hervor. In der Veterinärmedizin ist die im übrigen auch bekannt, dort tritt sie nur eben nicht in die breite Öffentlichkeit. Es geht dabei zum einen um die Ablehnung der sogenannten Schulmedizin und einer allgemeinen Skepsis gegenüber wissenschaftlicher Erkenntnis, zum anderen aber auch um einen diffusen Freiheitsbegriff und um Autonomie gegenüber dem Staat. So kann man das in etwa zusammenfassen.
Wie soll man Verschwörungstheorien Ihrer Meinung nach begegnen?
Es gibt aus meiner Sicht zwei Ebenen von Verschwörungstheorien. Die eine betrifft Halbwahrheiten und Pseudowissenschaften, die möglicherweise in Telegram-Chats herumgereicht werden. Dort bleiben sie in einer relativ überschaubaren Bubble hängen, man kann das ignorieren, oder anders gesagt: Eine Demokratie muss das aushalten. Gefährlich wird es, wenn demokratische Institutionen, die die Demokratie ausmachen und tragen, gezielt angegriffen und als illegitim dargestellt werden. Das ist eine rote Linie, das kann man nicht zulassen.
Manche Covid-Gesetz-Gegner*innen kündeten noch am Abstimmungssonntag an, das Resultat nicht akzeptieren zu wollen. Ist das ein Novum in der Geschichte der Schweizer Demokratie?
Dass Abstimmungsresultate dazu führten, dass politische Akteure öffentlich Emotionen zeigten oder unmittelbar nach der Bekanntgabe der Resultate neue Forderungen stellten, das ist kein Novum. Aber wie der letzte Sonntag zeigt, hat dieses Verhalten schon sehr selbstbewusste Züge angenommen. Dass eine Gruppe der Gegnerschaft via Medienmitteilung verkündet, das Abstimmungsresultat nicht anerkennen zu wollen, das habe ich so noch nicht erlebt.
«Dieser Abstimmungskampf wurde heftig geführt, auch mit zum Teil gewalttätigen Aktionen, mit zunehmender Radikalisierung einzelner Akteure und sehr vielen Fake News. Das finde ich besorgniserregend.»
Hat die Demokratie in diesem umstrittenen Abstimmungskampf Schaden genommen?
Ich sehe nicht, wo das passiert sein soll. Die institutionalisierte Demokratie und ihre Mechanismen haben doch tadellos funktioniert: Das Covid-19-Gesetz wurde vom Parlament zuerst stark abgeändert und dann verabschiedet. Es wurde ein Referendum ergriffen, dieses kam zu Stand. Dann wurde darüber abgestimmt, das Resultat fiel klar aus. Die Stimmbeteiligung war mit 65,7 Prozent überdurchschnittlich hoch. Dadurch ist das Ergebnis noch zusätzlich legitimiert.
Wie bewerten Sie die wöchentlichen Demonstrationen, die den Abstimmungskampf begleiteten?
Auch die gehören bei umstrittenen Sachfragen zum politischen Prozess dazu. Aber es ist schon so, dieser Abstimmungskampf wurde heftig geführt, auch mit zum Teil gewalttätigen Aktionen, mit zunehmender Radikalisierung einzelner Akteure und sehr vielen Fake News. Das finde ich schon besorgniserregend.
Wenn wir die Story von der gespaltenen Gesellschaft endlich begraben wollen: Welche Gegenerzählung brauchen wir?
Eine, die sich darauf besinnt, um was es eigentlich geht. Es geht darum, dass wir diese Pandemie möglichst wirksam bekämpfen, nicht uns gegenseitig. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat dieses Narrativ von Anfang an stark vertreten, indem er sagte: «Nous sommes en guerre contre un ennemi invisible», wir sind im Krieg gegen einen unsichtbaren Feind. Mag sein, dass das drastisch klingt, aber es macht sehr deutlich, wo das eigentliche Problem liegt. Nämlich beim Virus. Nicht beim Bundesrat, den anderen Kantonen oder möglicherweise ungeimpften Bekannten.
«Aus Sicht der Coronamassnahmen-Gegner scheint es sinnvoll, das Mediensystem zu destabilisieren.»
Der nächste Abstimmungskampf steht schon bevor. Manche Covid-Gegner*innen wie beispielsweise die selbsternannte Bewegung «Mass-Voll» machten bekannt, sich im Abstimmungskampf gegen das Mediengesetz engagieren zu wollen. Warum?
Einige Gruppierungen haben gemerkt, dass ein funktionierendes Mediensystem ein wichtiger Faktor ist in einer direkten Demokratie. Die Coronamassnahmen-Gegner fanden zwar viel Aufmerksamkeit, sie hatten aber in den meisten Medien wenig Rückhalt. Sie entdeckten dafür die Kommunikation über eigene Kanäle im Kreise Gleichgesinnter. Also scheint es aus ihrer Sicht sinnvoll, das Mediensystem zu destabilisieren
Aber ein Referendum gegen das Mediengesetz ist ein ganz anderes Thema als das Covid-Gesetz. Lässt sich die politische Energie einfach so umleiten?
Ähnlich wie beim Covid-Gesetz haben die Akteure dieser Vorlage ganz klare Positionen. Aber ob das Thema der Medienförderung zum einen innerhalb der Gruppe der Coronamassnahmen-Kritiker*innen und zum anderen in der Gesellschaft auf gleich viel Zuspruch stösst und wieder breit mobilisieren kann, das muss sich erst zeigen.
Der Nationalrat hat im Sommer 2021 ein Paket zur Medienförderung verabschiedet. Während sieben Jahren werden die Medien in der Schweiz direkt und indirekt mit 120 Millionen Franken mehr gefördert als bisher, beispielsweise durch Posttaxenverbilligung.
Neu am Gesetz: In Zukunft sollen auch Onlinemedium wie Bajour profitieren, für sie sind 30 Millionen Franken vorgesehen. Ebenso sollen auch Nachrichtenagenturen wie Keystone-SDA und die Medienausbildung gefördert werden.
Das Komitee «Staatsmedien Nein» hat dagegen das Referendum ergriffen, abgestimmt wird am 23. Februar 2022. Transparenzhinweis: Bajour ist Teil des Verbands Medien mit Zukunft, der das Medienförderungsgesetz unterstützt.
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Bajour-Chefredaktorin Andrea Fopp und Primenews-Gründer Christian Keller haben schon mehrmals zum Thema die Klingen gekreuzt.
🎧 Im Podcast Fürobebier von Primenews: primenews.ch/fürobebier
📺 und im Telebasel-Talk: telebasel.ch/talk
Gegen das Mediengesetz bringen sich, zusätzlich zu manchen Massnahmen-Gegnern und der SVP, marktliberale und auch libertäre Kreise in Stellung. Spricht das nicht für eine noch grössere politische Mobilisierung, als noch beim Covid-Gesetz?
Es stimmt, die Libertären waren zuletzt zurückhaltend und werden sich im Kampf gegen eine Unterstützung der Medien durch den Staat deutlicher äussern. Aber das Thema ist entscheidend für die Mobilisierung, nicht nur die Akteure. Die letzte Abstimmung, die in diesem Zusammenhang der Medienpolitik steht, ist die No-Billag-Initiative vom März 2018. Die wurde am Ende deutlich abgelehnt (71,1 Nein-Stimmen, Anm. d. Red.), die Stimmbeteiligung lag bei gut fünfzig Prozent (54,4%). Vor allem in der Romandie und in Graubünden wollte man davon nichts wissen.
Welche Rolle spielt das im aktuellen Kontext?
Die Massnahmen-Gegner sind vor allem in der Deutschschweiz verankert. Gut möglich, dass eine weitere Kampagne gegen das Mediengesetz in der lateinischen Schweiz wiederum kaum jemanden interessiert. Es geht im Zusammenhang mit dem Mediengesetz auch um Minderheitenschutz. Aber wie gesagt: Die Frage, ob das Mediengesetz in der Bevölkerung ähnliche Emotionen zu wecken vermag wie die Abstimmung über das Covid-Gesetz, das wird sich erst noch zeigen.
Was ist Ihre Vermutung?
Die Medienförderung ist komplexer als die Frage, ob man sich impfen lässt oder für ein Covid-Zertifikat ist. Der Abstimmung fehlt zudem die folkloristische Aufladung. Ich denke, die Diskussion wird sich eher wieder im bisher gewohnten politischen Rahmen bewegen.
«Aus meiner Sicht ist das Potenzial für eine erfolgreiche politische Kraft an den Rändern des politischen Spektrums klein.»
Coronamassnahmen-Gegner*innen kündeten an, in Zukunft als politische Partei Fuss fassen zu wollen. Welche Chancen geben Sie einer Partei «Aufrecht Schweiz?»*
Der politische Raum in der Schweiz ist ziemlich besetzt. Das Parteiensystem ist einigermassen ausdifferenziert, rechts von der SVP gibt es auf nationaler Ebene kaum mehr viel zu holen.
Die Massnahmengegner*innen bestanden ja auch nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Linksalternativen, Datenschützer*innen und anderen Gruppen.
Die einzige politische Position, den man als unbesetzt bezeichnen könnte, ist eine linkskonservative Position. Ich habe aber nicht den Eindruck, dass sich die sehr heterogen zusammengesetzte Gruppe der Massnahmenkritiker*innen alle im linkskonservativen Raum wiederfinden. Aus meiner Sicht ist das Potenzial für eine erfolgreiche politische Kraft an den Rändern des politischen Spektrums klein. Zudem müssen sich Parteien in der Schweiz vor allem kantonal etablieren.
Die Stimmbeteiligung nimmt in den letzten Jahren tendenziell zu. Was sagt uns das über unsere Zeit?
Wenn sich immer mehr verschiedene Meinungen Zugang zur medialen Bühne verschaffen und die politischen Debatten in Bezug auf eine Sachvorlage mit mehr Herzblut geführt werden, dann steigt die Stimmbeteiligung. Das ist eine logische Folge einer ausdifferenzierten Meinungskultur und eine Entwicklung, die wir schon länger beobachten.
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*Mittlerweile hat das Bündnis «Aufrecht Schweiz» bekannt gegeben, keine neue Partei gründen zu wollen, sondern sich lediglich als Bürgerrechtsbewegung aktiv an der «Wiederherstellung der Grund- und Menschen-rechte in der Schweiz» zu beteiligen. Die NZZ hat über die die Zusammensetzung der Gruppe geschrieben.
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