Wie ein TV-Ereignis von einem anderen Stern
Frankreich hat gewählt. Emmanuel Macron bleibt Präsident. Wie lief diese Wahl aus Sicht unserer Nachbar*innen im französischen Grenzgebiet? Eine Reportage am Wahlsonntag.
Was passiert in den demokratischen Kapillaren eines Landes am Abend der Wahl, die die Zukunft des Kontinents in neue Bahnen lenken könnte?
In 68330 Huningue, Département Haut-Rhin, mit 7400 Einwohner*innen und gemeinsamen Grenze mit der Schweiz (Basel) und Deutschland (Weil am Rhein) steht eine Bar. Ausser dort ist gar nichts los im Dorf. In der Bar hängen zwei Fernsehbildschirme an den Wänden, einer nach Süden und einer nach Norden. Und vor einem der Bildschirme wird, Sekunden bevor Frankreich eine*n neue*n Präsident*in erhält, gefuchtelt und gebrüllt, «DU SAUHUND», oder «JA, MACH SIE FERTIG JETZT», dass man meinen könnte, man habe sich an hier in die besonders lebhafte erste Reihe eines politischen Boxkampfes verirrt.
Aber auf dem Bildschirm läuft keine politische Direktübertragung nach Paris. Da läuft ein Pferderennen. Und die Männer mit den Daunenwesten und den weissen Sneakers und den aufgescheuerten Jeans sind gedanklich nicht bei Macron oder Le Pen sondern sie wetten auf Pferde mit den Namen Funny d’Aval oder Forever Young oder Fury d’Evel.
Am Ende gewinnt ein anderes Pferd. Darum wird hier kurz geschrien und dann noch eine Runde Raki bestellt.
Dann, es ist kurz vor 20 Uhr, kommt der Wirt und schraubt die Lautstärke des anderen Bildschirms hoch. Die Köpfe der Männer in der Bar drehen sich um 180 Grad. In grossen Technoziffern zählt ein Countdown von 10 bis 0. Emmanuel Macron von der liberalen «La République en Marche!» gewinnt laut ersten Hochrechnungen deutlich mit 57,60 Prozent vor Marine Le Pen vom rechtspopulistischen «Rassemblement National».
Ein kurzer Aufschrei geht durch die Bar, einer ballt die Faust. Dann wenden sich die Männer wieder dem Pferderennen zu.
Zwei Stunden früher regnet es in Strömen auf den viel zu grossen Hauptplatz dieses Dorfs am Rande der Republik. Francis steht unter einem Baum und raucht. Er sagt, er sei Antifaschist. Jeans-Hose und Jacke, ein purpurnes Hemd, eine Kette um den Hals, feine Gesichtszüge: Francis sieht nicht aus wie ein linker Punk.
Aber in Zeiten wie diesen, in denen Politikerinnen wie Marine Le Pen mit rechtsextremen Parolen in die Nähe eines Wahlsiegs gelangen, in solchen Zeiten also scheint es dem Metallbauer Francis angebracht, um seine politische Haltung kein Gewese zu machen, sondern frank und frei zu sagen, er sei Antifaschist. Also ganz sicher kein «Macronist», aber Le Pen hasse er noch viel mehr und darum habe er an diesem Sonntag doch für Macron gestimmt. Um Le Pen zu verhindern.
Francis sagt, dass Le Pen zu extrem sei. Dass sie zum Beispiel muslimischen Frauen das Tragen von Kopftüchern verbieten will: Zu radikal. Denken seine Freund*innen wie er? Ja. «Sonst ginge die Freundschaft kaputt.» Er arbeitet in einer Aluminiumfabrik, ein wenig nördlich von hier. Manche Kollegen in der Fabrik denken anders. «Da kann man nichts machen», sagt Francis.
Huningue ist der westlichste Zipfel des Départemens Haut-Rhin. In der ersten Runde des Präsidentschaftswahlkampfes wählten Huningue und die meisten Gemeinden in unmittelbarer Nähe Macron. Bis auf Illzach und Mulhouse. Die wollten Jean-Luc Mélenchon. Der Linkspopulist hatte vor Monaten im Elsass seinen Wahlkampf eröffnet, was Politiker*innen in der Region als Zeichen deuteten, dass diese Landesgegend eben doch nicht zu den abgehängten gehört, wie es landläufig heisst. Mélenchon war da. Wir sind noch wer.
Das Département Haut-Rhin war trotzdem umstritten. Macron erhielt in der ersten Runde 27,85 Prozent der Stimmen, Le Pen, 27,77 Prozent. Mélenchon landete abgeschlagen auf Platz drei. Gemessen an diesen Zahlen musste das für den Wahlsonntag bedeuten: Jede Stimme zählt.
Ein Araber wählt Le Pen
Aber am Wahlabend sind die Strassen in Huningue wie leergefegt. Tote Hose, Sonntagabendtristesse. Zwei junge Typen stehen vor dem Kiosk und trinken Capri-Sonne. «Macron muss weg», sagt der eine. Der mache nichts fürs Volk. Der sei ein Arroganter. Der junge Mann sagt, er habe noch nicht gewählt, aber er werde gleich noch ins Wahllokal laufen und «weiss» einlegen. Ein Mittelfinger an die Auswahl zwischen «Pest» und «Cholera», wie er das nennt. Eine «weisse Stimme» gilt als Enthaltung, sie markiert Anwesenheit, ohne Teilnahme an der Wahl. Eine Proteststimme.
Sein Kumpel hofft, Le Pen mache das Rennen. «Das ist vielleicht komisch, weil ich Araber bin. Aber es braucht was Neues. Etwas muss sich ändern.» Wäre der Linke Mélenchon noch im Rennen, würden die zwei für ihn stimmen. Jetzt stimmen sie einmal weiss. Und einmal für Le Pen. Kurz ein Foto für die Zeitung? «Lieber nicht.»
Der Strasse zum Wahlbüro entlang stehen viele Läden leer. Hauptstrasse, beste Lage. Es liegt eine grosse Verlassenheit über diesem Dorf. 7400 Einwohner*innen. 3900 Wahlberechtigte. Wählen darf, wer über 18 Jahre alt ist. Und den französischen Pass hat.
Die kommen an diesem Sonntag nach und nach in eins der vier Wahllokale, um ihre Stimme einem der beiden Kandidat*innen zu geben oder eben «weiss» zu wählen. Das französische Wahlsystem sieht vor, dass pro 1000 Wahlberechtigte ein Wahlbüro zur Verfügung steht. Damit es schnell geht, damit niemand die Wahl sausen lässt, aus Unlust davor, in einer Schlange zu warten. In den Kapillaren der Demokratie stehen viele durchsichtige Boxen. Briefliches Abstimmen bei Präsidentschaftswahlen gibt es nicht.
Der Bürgermeister und die Unentschlossenheit
«Das ist schade», findet Jean-Marc Deichtmann. Der Bürgermeister von Huningue steht im Wahllokal 4 hinter einer solchen Glasbox mit den Wahlzetteln drin und bedankt sich bei den Wählenden für ihr Kommen. Was anderes darf er ihnen nicht sagen, sonst könnte das als Beeinflussung verstanden werden.
Deichtmann sagt, briefliches Abstimmen würde noch mehr Leute zur Wahl animieren. Die Quote im ersten Wahlgang lag bei 75 Prozent. 2017 und 2012 waren mehr Leute an der Urne. Bei manchen spüre er eine grosse Unentschiedenheit, sagt Deichtmann.
«Die kommen da herein, sagen Hallo, nehmen sich beide Wahlzettel mit den Namen der Kandidierenden und verschwinden in der Wahlkabine. Manche stehen dann da, eine, zwei Minuten lang. Offenbar ringen sie bis zur letzten Sekunde mit sich, wem sie die Stimme geben sollen. Sonst wären sie doch nach zehn Sekunden wieder draussen.»
Er selbst hofft, dass Macron das Rennen macht. «Er hat in den letzten fünf Jahren viel dazugelernt», sagt er fast entschuldigend. «Seine Wahl wäre wichtig für Frankreich. Und für Europa.»
Es ist das einzige Mal an diesem Sonntag, dass irgendjemand auf den Strassen Huningues im Kontext der Wahl auf Europa zu sprechen kommt. Die Wahl entscheidet sich für die Menschen offenbar mehr an der Frage, was ihnen die Kandidierenden hier anbieten, in Huningue, vor der eigenen Haustüre.
Clara und Manon wählten zum Beispiel Le Pen. «Weil sie für junge Menschen bis 30 die Einkommenssteuern abschaffen will», sagt Clara. Sie arbeitet als Assistentin eines Tierarztes. Manon ist in der Immobilienbranche tätig. Was sie an Macron stört, können sie gar nicht recht sagen. «Ich mochte ihn von Anfang an nicht leiden», sagt Manon.
«Wir im Elsass, und das gilt klar auch für den Rest Frankreichs, hatten den Kopf woanders.»Michèle Lutz, die Bürgermeisterin von Mulhouse, in einem BaZ-Interview
Um Punkt sieben Uhr abends kommt ein Beamter und schliesst mit einem kleinen Schlüssel die Glasbox ab. Die Wahl in Huningue ist beendet. Jetzt zählen gewählte und freiwillige Wahlhelfer*innen die Stimmen der vier Wahllokale. Um 21 Uhr wird das Resultat an die Präfektur nach Colmar geschickt. Von da nach Paris. Gegen 1 oder spätestens 2 Uhr morgens steht dann das definitive Wahlresultat fest, sagt Jean-Marc Deichtmann.
63,93 Prozent der Wählenden in Huningue stimmen an diesem Abend für Macron. 36,07 für Le Pen. Die Wahlbeteiligung lag im Dorf bei 68,16 Prozent. Die Bürgermeisterin von Mulhouse, Michèle Lutz, sagte kürzlich in einem Interview mit der Basler Zeitung, die Leute seien mit dem Kopf nicht bei dieser Wahl. Sondern bei den Folgen der Pandemie. Dem Krieg in der Ukraine. «Die Lebenshaltungskosten steigen, speziell der Gaspreis und die Benzinkosten.» Das sei es, was die Leute beschäftige.
Mit Blick in die Kneipe L'Arsenal am Hauptplatz von Huningue könnte man sagen: Das stimmt. Die Wahl erscheint wie ein TV-Ereignis von einem anderen Stern. Kurz die Lautstärke raufdrehen. Reicht dann auch.
Frankreich hat einen liberalen Präsidenten behalten. Ein liberaler Leitsatz lautet, man sei seines eigenen Glückes Schmied. Das ist ein schöner Satz, aber politische Versprechen und das Wetten auf Pferderennen erscheinen in dieser Bar, irgendwo am westlichen Zipfel des Lands, lediglich wie zwei gleichwertige Angebote ein und derselben Unterhaltungsbranche. Als Glücksspiel nämlich.