Solidarität oder Verharmlosung?
Politiker*innen mit Pro-Palästina-Haltung im Nahost-Konflikt sind seit dem Angriff der Hamas auf Israel mehr denn je unter Rechtfertigungsdruck. Die Linke steht vor einer Gratwanderung.
Aussagen auf den Sozialen Medien zum Terrorangriff der Hamas auf Israel lösen derzeit schnell eine Welle von empörten bis wütenden Reaktionen aus. Das gilt für Privatpersonen, aber besonders auch für Politiker*innen. Beispiel Fabian Molina. Der SP-Nationalrat twitterte am Sonntag:
Postwendend kamen Antworten, die ihm vorwarfen, den Terror durch die Hamas nicht deutlich genug zu benennen. Der Vorwurf, der bei vielen der Antworten zumindest mitschwingt: Linke sind nicht oder zu wenig solidarisch mit Jüd*innen und der Bevölkerung in Israel. Er habe damals auch dagegen gestimmt, als im Nationalrat diskutiert wurde, ob die Schweiz Hamas als Terrororganisation einstufen soll.
Nachfrage beim Politikwissenschaftler Laurent Goetschel: Ist es eine Gratwanderung für linke Politiker*innen, zu diesem Thema Stellung zu beziehen?
Goetschel bestätigt: «Politisch gesehen sind es beim Nahostkonflikt tendenziell linke Politiker*innen, die sich eher solidarisch mit der palästinensischen Seite zeigen und rechte, die eine Pro-Israel Haltung einnehmen.» Er sagt aber auch, dass es grundsätzlich solchen komplexen aussenpolitischen Themen wie dem Nahostkonflikt «nie gut tut, wenn sie ins politische Tagesgeschäft heruntersteigen».
Genau das sei aber aktuell zu beobachten, wenn in den Sozialen Medien einzelne Fragen diskutiert werden wie: Soll die Hamas verboten werden? Oder: Muss die Entwicklungshilfe eingestellt werden? «Bei so einem Konflikt kann die parteipolitische Linse meist wenig zur Orientierung beitragen», so Goetschel. «Im Gegenteil: Es werden vorschnelle Äusserungen gemacht, die die Social-Media-Logik von Like und Dislike im politischen Diskurs reproduzieren und nicht alle Kommentare dazu sind gleich qualifiziert.»
Aus seiner Sicht habe Fabian Molina mit seinem Statement am Wochenende «einen Mittelweg beschritten, den ich mir auch von anderen wünschen würde: Er verurteilt das Geschehen als abscheulich, positioniert sich gegen Gewalt und für den Schutz der Zivilbevölkerung». Das sei, sagt Goetschel, eine differenzierte Haltung, für die Molina zu Unrecht sehr viel Kritik erhalte.
«Bei so einem Konflikt kann die parteipolitische Linse meist wenig zur Orientierung beitragen.»Laurent Goetschel
«Von Politiker*innen aus einem Land mit guten Beziehungen in die Region würde ich erwarten, dass sie differenziert sind und über die aktuellen Geschehnisse hinausschauen», sagt Goetschel. «Im Grunde genommen bräuchten doch sowohl die Israelis als auch die Palästinenser eine neue Führung. Politiker*innen, deren Entscheidungen zu solchen Ereignissen führen, haben es nicht verdient, an der Spitze eines Landes zu stehen.»
Wie sehen das linke Politikerinnen aus der Region?
Die ehemalige SP-Grossrätin Danielle Kaufmann hat sich auf X zu Wort gemeldet, als den Linken vorgeworfen wurde, am Tag des Angriffs sonderbar still zu sein. «Ich bin jüdischer Herkunft und die Situation in Israel und Palästina prägt mich schon mein ganzes Leben», sagt sie auf Anfrage. Schon in jungen Jahren habe sie ihre Familie kritisiert, «weil ich eine sehr linke politische Haltung vertrat, oder ich habe von meinen Gspänli Kritik bekommen, weil ich Verbindungen nach Israel hatte».
Das Problem sei: Wenn man nicht einfach schwarz-weiss denke, werde einem das von beiden Seiten «angekreidet» und in den letzten Tagen habe es sich für sie wieder einmal gezeigt, «dass Formulierungen zu diesem Thema eine extreme Gratwanderung sind».
«Ich persönlich versuche mich dann jeweils auf meine menschlichen Werte zu besinnen», sagt Kaufmann. «Eine unglaubliche Zahl von Menschen in Israel wurde von der Terrororganisation Hamas grausam ermordet und ich will mir nicht vorstellen, wie es ist, eine Geisel der Hamas zu sein. Bei diesen Gedanken wird mir schlecht.» Genau so werde es ihr schlecht, wenn sie sich vorstelle, sie wäre eine Mutter mit kleinen Kindern, wäre in Gaza eingesperrt und würde jetzt von israelischer Seite bombardiert.
«Ich glaube, die Schwierigkeit ist, dass Menschen diese Gleichzeitigkeiten solcher Situationen nicht aushalten können oder wollen», so Kaufmann. «Aber genau das müssen wir jetzt tun: Die Gleichzeitigkeit aushalten und uns wirklich überlegen, was wir angesichts dieser totalen Katastrophe der Situation tun können, um noch mehr Leid zu verhindern und eine längerfristige Lösung für Frieden finden zu können.»
«Ich glaube, die Schwierigkeit ist, dass Menschen diese Gleichzeitigkeiten solcher Situationen nicht aushalten können oder wollen.»Danielle Kaufmann
Michela Seggiani, Grossrätin und Fraktionspräsidentin der SP Basel-Stadt, hat sich am Dienstag gegenüber der BaZ zur Forderung der SVP geäussert, am Rathaus aus Solidarität die israelische Flagge zu hissen. Wie nimmt sie die Gratwanderung einer Positionierung wahr?
«Der Nahostkonflikt ist sehr komplex und vielschichtig. Es wäre vermessen von mir, hierzu Stellung zu beziehen, weil ich keine Nahostexpertin bin», sagt Seggiani. Viele Politiker*innen seien jetzt sehr vorsichtig mit Äusserungen zum Thema, «das zeigt, wie brisant die Situation ist und wie weit sie in unseren Alltag reicht». Es führe aber auch dazu, dass sich im Moment häufig diejenigen äussern, «vor allem auf Social Media», die eine klare Pro-Israel- oder Pro-Palästina-Haltung hätten.
«Mir ist es wichtig, dass man trotz der schrecklichen jüngsten Ereignisse differenziert bleibt – egal ob man links oder rechts ist», so Seggiani. «Dazu gehört auch, dass ich sage: Ich verurteile die Hamas für diesen Terroranschlag, ich verurteile nicht Palästina.» Bei einem Terroranschlag spiele es keine Rolle, wer auf welcher Seite steht. «Ich verurteile den Anschlag unbedingt! Zivile Opfer sind nicht entschuldbar, sie haben meine volle Solidarität.»
Dieser Haltung schliesst sich auch Franziska Stier an, Parteisekretärin der Basta: «Unserer linken Haltung liegen Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht zugrunde.» Zunächst sei wichtig, dass alle Waffen schweigen und die Gewalt gestoppt werde.
«Wenn es eine Waffenruhe gibt, dann kann man zusammen mit allen demokratischen Kräften über die Bedürfnisse und Sicherheitsgarantien beider Seiten reden», ergänzt sie. Langfristig müsse auf eine beidseitig akzeptierte und friedliche Lösung hingearbeitet werden: «Denn Frieden ist mehr als die blosse Abwesenheit von Krieg.»
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