Psychische Gesundheit von Jugendlichen: «Jetzt nicht zu reagieren, wird sehr viel Leid schaffen»
Kinder und Jugendliche trifft die Corona-Pandemie besonders stark. Homeschooling respektive Homeoffice, ein eingeschränktes Nachtleben und schwierige Reiseumstände verstärken die soziale Isolation und belasten die Psyche. Roger Staub, Geschäftsleiter bei Pro Mente Sana, erklärt, was Eltern tun können.
Roger Staub, wie geht es den Jugendlichen?
Studien zeigen, dass Jugendliche durch die Pandemie psychisch sehr belastet sind. Insbesondere die Diagnose Depression stieg bei den 14- bis 24-Jährigen von 7 Prozent auf über 30 Prozent markant an. Das heisst: Viermal mehr junge Menschen leiden seit der Pandemie unter dieser Krankheit. Gravierend ist es zudem, weil Suizidgedanken oft zum Krankheitsbild einer Depression gehören. Dementsprechend haben wir unter uns bis zu viermal mehr Mitmenschen, die über Suizid nachdenken als sonst.
Roger Staub, 1957 geboren und im Zürcher Oberland aufgewachsen, ist seit 2017 Geschäftsleiter der Stiftung Pro Mente Sana. Die gemeinnützige Organisation beschäftigt rund 40 Mitarbeitende, die sich für die psychische Gesundheit in der Schweiz engagiert. Staub ist Mitgründer der Aids-Hilfe Schweiz und war lange in der HIV-Prävention tätig.
Haben sich die Symptome durch Corona verändert?
Nein, das Krankheitsbild ist das gleiche wie vorher. Jugendliche reagieren auf psychosoziale Belastung mit Stress, Angstzuständen oder entwickeln eine Depression. Möglicherweise könnte mit Long Covid ein neue psychische Krankheiten auch für Jugendliche entstehen – dazu ist momentan aber noch zu wenig bekannt. Eins ist jedoch bereits heute klar: Wenn zum Beispiel bei Long Covid Atemprobleme hervorgerufen werden, kann ein Mensch deswegen Angstzustände entwickeln.
Was können Eltern tun, wenn sie Angst um die psychische Gesundheit ihrer Kinder haben?
Eltern rate ich zum einen den Erste-Hilfe-Kurs für psychische Gesundheit mit dem Fokus auf Jugendliche zu besuchen. Das Prinzip ist das gleiche wie beim Nothelferkurs. In sieben Online-Sitzungen lernt man die verschiedenen Symptome psychischer Krankheit kennen und wie man mit dem Konzept ROGER Erste Hilfe leisten kann
Welche weiteren Angebote gibt es?
Eltern können sich an die Beratungsstellen wenden. Pro Juventute, die Nummer 147 wählen oder im Notfall: 143, die Dargebotene Hand. Die Beratungen sind allesamt niederschwellig und anonym. Man kann einfach anrufen und sich beraten lassen. Ausserdem besteht die Möglichkeit, dass man in einem Online-Tool, über eine gesicherte Leitung, sein Anliegen teilt und auf digitalem Weg eine Antwort oder Hilfe erhält.
«Wenn man den Eindruck hat, dass etwas nicht stimmt, sollte man nachfragen: ‹Hallo, wie geht’s dir?›»
Auf welche Warnsignale sollten Eltern achten?
Das Wichtigste ist, dass Eltern nicht denken, es seien Pubertätsprobleme, die von selbst wieder verschwinden. Wir wissen, dass psychische Probleme oft bereits vor der Pubertät beginnen und deshalb ist es essenziell, die Symptome rechtzeitig zu erkennen.
Wann muss man reagieren?
Bei Menschen, die wir kennen, merken wir, wie es ihnen geht. Sobald mir jemand «verändert» vorkommt, sollte mich das motivieren, auf diese Person zuzugehen und zu fragen, wie es geht, Interesse an dieser Person zu zeigen und Zeit zu haben für ein Gespräch. Also das R von ROGER: «reagiere» anwenden.
Wie kann man psychische Probleme erkennen und helfen?
Der Schlüssel zur seelischen Gesundheit ist ganz simpel. Wenn man den Eindruck hat, dass etwas nicht stimmt, sollte man nachfragen: «Hallo, wie geht’s dir?» Wenn Betroffene das Gefühl bekommen, dass das Gegenüber sich für sie interessiert, nicht alleine zu sein, kann rechtzeitig gehandelt werden. Ein offenes Ohr und Interesse sind bereits ein Teil der Hilfe.
Gibt es Floskeln, die man vermeiden sollte?
Wir sollten aufhören zu fragen: «Gaht’s guet?» Damit signalisieren wir nämlich, dass wir ein «Ja» erwarten. Vor allem aber sollten wir keine abwertenden Bemerkungen machen. Wir müssen uns angewöhnen, das, was andere berichten, ernstzunehmen. Auf Aussagen wie: «Ich habe Angst» sollte nicht «Musst keine Angst haben» erwidert werden. Angst ist für diese Person eine Realität und deshalb ist es nicht von Nutzen diese zu relativieren. Die schweizerische Standardantwort auf: «Ich fühle mich depressiv» ist «Tu doch nicht so» oder «Chum, gib dir en Ruck». Das ist nicht hilfreich und nimmt Betroffene nicht ernst. Denn diesen fehlt nicht der Wille, sondern sie können nicht.
Was sollte man anstelle dessen sagen?
Am besten stellt man offene Fragen wie: «Wie geht es dir?» oder «Belastet dich etwas?». Ausserdem sollten die Umstände und der Rahmen stimmen. Nur so kann ein Gespräch mit einem Jugendlichen gelingen. Möglicherweise wirkt es beim ersten, zweiten oder dritten Versuch etwas seltsam, aber für das Wohl des Kindes sollte man sich dafür überwinden.
Was passiert, wenn man zu spät reagiert?
Bedauerlicherweise wird meistens nicht nur spät reagiert, sondern gar nicht erst. Für die Entwicklung von Jugendlichen mit einer psychischen Erkrankung, die nicht früh genug diagnostiziert wird, ist das fatal. Es hat nicht nur einen negativen Einfluss auf die schulische oder später berufliche Laufbahn, sondern wirkt sich auf das gesamte Leben aus. Der Start in ein gelingendes Leben wird verpfuscht.
«Wenn wir jetzt nicht reagieren, wird sehr viel individuelles Leid geschaffen und für uns als Gesellschaft kommt das teuer zu stehen.»
Wann braucht es professionelle Hilfe?
Wenn die Auffälligkeiten länger anhalten und nicht mehr als «Phase» durchgehen. Aber ganz grundsätzlich sollte man sich als Eltern einfach lieber früher als später von einer Fachperson beraten lassen und der Erste-Hilfe-Kurs ist wirklich sehr zu empfehlen, um eine richtige Lagebeurteilung zu machen. Darf ich dazu eine kleine Anekdote erzählen?
Gerne.
Ich war früher Lehrer. Wenn ich meinen Kolleginnen und Kollegen den Kurs empfahl, dann sagten sie meistens: «Uii nein, bitte nicht nochmals einen zusätzlichen Kurs.» Aber die, die ihn absolviert haben, sind dankbar dafür, dass sie ROGER nun im Alltag anwenden können. Die wenigsten von uns mussten wahrscheinlich in einem Ernstfall den Erste-Hilfe-Kurs in der Realität anwenden, aber ROGER begleitet mich in meinem privaten sowie geschäftlichen Umfeld tagtäglich.
Zum Schluss noch, wie reagiert die Politik auf die Lage der Jugendlichen?
In der Politik ist das Thema psychische Krankheit tabuisiert. Vorstösse wurden zwar in der Vergangenheit besonders aus dem linken politischen Lager vorgebracht, jedoch blieben diese meistens im Parlament hängen und im Rahmen der Corona-Gesetzgebungen und -hilfen wurden diese erst gar nicht in Betracht gezogen, geschweige denn diskutiert. Der Bund investiert Milliarden in die Wirtschaft, aber er will nicht in psychische Folgeschäden der Pandemie investieren.
Sie wünschen sich finanzielle Unterstützung?
Geld würde sicherlich kurzfristig helfen, denn dann könnten wir unsere Kapazitäten im Bereich der Beratungen und der Sensibilisierungskampagnen sowie die ensa-Kurse hochfahren. Bereits heute sind therapeutische Anlaufstellen massiv überrannt, weil viele Kinder psychisch angeschlagen sind und mit Nichtstun werden diese vermutlich im Alter nicht gesünder – das bedeutet: Wenn wir jetzt nicht reagieren, wird sehr viel individuelles Leid geschaffen und für uns als Gesellschaft kommt das teuer zu stehen.
Die Tipps von Pro Mente Sana:
- «Wie geht's dir?» ist mitunter die wichtigste Frage, die du dir selbst, wie auch deinem nahen Umfeld stellen kannst. Hilfreich dafür sind die Gesprächstipps von Pro Mente Sana.
- Mit dem Emotionen ABC lernst du deine psychische Gesundheit richtig einzuordnen. Das ABC hilft bei alltäglichen Ups und Downs und gibt praktische Tipps.
- Bei Pro Mente Sana gibt es verschiedene Angebote, um im Ernstfall das Richtige zu unternehmen. Dabei hilft das Dossier: Anzeichen erkennen.
- Unter der Telefonnummer 0848 800 858 bietet Pro Mente Sana eine kostenlose Beratung an für Betroffene, Angehörig, sowie speziell für Arbeitgeber*innen. Dabei werden psychosoziale und auch juristische Fragen beantwortet.
Weitere Anlaufstellen für Beratung und den Notfall
- Dargebotene Hand: Telefonisch 143 wählen. Anonym und rund um die Uhr.
- Telefon für Kinder und Jugendliche: Telefonisch 147 wählen oder per SMS schreiben. Anonym und rund um die Uhr.
- LGBT+ Helpline: Beratungsstelle für alle Anliegen in Sachen LGBT+ und Meldestelle für homo- und transphobe Gewalt. Rufnummer: 0800 133 133 (Montag - Donnerstag, 19 - 21 Uhr)
- Medizinische Notrufzentrale Basel-Stadt: Was tun im Notfall? Rufnummer:
061 261 15 15 - Zentrum für Diagnostik und Krisenintervention Akutambulanz (ab 18 Jahren): Walk In ohne Termin, Montag bis Freitag 08:00 - 16:00 Uhr. Rufnummer: 061 325 81 81
- Klinik für Kinder und Jugendliche der UPK Basel: Stationäre Betreuung und ambulante Dienstleistungen. Rufnummer: 061 325 82 00
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