EU ist Beste

Die Grundfreiheiten der EU schränken die Unionsbürger*innen in Wahrheit ein, schreibt Bajour-Kolumnist Werner Vontobel. Die EU-Wirtschaftspolitik mache das EU-Rahmenabkommen unattraktiv. Das kann unsere EU-Bürgerin Ina Bullwinkel nicht auf sich sitzen lassen.

Mann mit EU-Pullover
Die EU ist besser als ihr Ruf, findet Ina Bullwinkel. (Bild: Henri Lajarrige Lombard/Unsplash)

Ich war sprachlos, als ich die Kolumne von meinem Kollegen Werner Vontobel zum EU-Rahmenabkommen gelesen habe. Nein, stimmt nicht: Ich war gekränkt. Werners Thesen kann ich nicht so stehen lassen. Schliesslich bin ich EU-Bürgerin und habe Europawissenschaften an der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) studiert. Kurz: Ich bin pro EU (as f***).

Werner Vontobel nennt keine der positiven Seiten der EU, die vier Grundfreiheiten, das grösste Gut der EU, verkehrt er ins Negative. Werner schreibt, Expats, Altenpfleger*innen aus Osteuropa und entsandte Bauarbeiter*innen würden von den Grundfreiheiten profitieren. Gleichzeitig würden 80 Prozent von ihnen darunter leiden – weil sie ständig dorthin ziehen müssten, wo der globale Markt gerade Nachfrage schafft. 

Das stimmt, der Markt zerrt an ihnen. Aber die EU ist nicht allein für die Globalisierung und den weltweiten Austausch von Waren und Arbeitskraft verantwortlich. Natürlich geht es darum, Kosten um jeden Preis zu drücken, um Waren und Dienstleistungen so günstig wie möglich anbieten zu können – das System dahinter heisst aber Kapitalismus und den gibt es auch ohne EU und ihre Grundfreiheiten.

EU-was?

Die vier Grundfreiheiten beziehen sich auf Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Sie alle können innerhalb der EU-Grenzen frei zirkulieren, ohne Zölle, ohne Visa. So ermöglichen sie den Europäischen Binnenmarkt, das Herzstück der Union. 447 Millionen EU-Bürger*innen und Tausende Firmen teilen dieses Privileg.

Und, dank der bilateralen Verträge, auch die Schweiz. Allerdings ohne die gleichen Pflichten, welche die EU- und EWR-Staaten eingehen müssen. Die Schweiz geniesst mit dem Freizügigkeitsabkommen aktuell also eine bilaterale Extrawurst, im Gegensatz zu den Mitgliedern des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) wie Island, Liechtenstein und Norwegen.

Werner fordert die Regierungen der EU-Staaten auf, eine bessere Wirtschaftspolitik zu machen, damit die Bürger*innen im Inland ihre Arbeit verrichten können und gar nicht erst ins EU-Ausland gehen müssen. Das ist eine schöne Idee und für die allermeisten ist genau das möglich. Ansonsten wären die Wanderungsbewegungen innerhalb der EU wohl höher. 

Aber es stimmt, dass unter den mobilen EU-Bürger*innen überdurchschnittlich viele aus den ärmeren osteuropäischen Ländern wie Polen, Rumänien oder Bulgarien stammen. Und nicht alle tauchen in den Statistiken auf, weil sie ihren Wohnsitz nicht verlegen. Diese Arbeiter*innen gehören nicht zu denjenigen, die freiwillig ins Ausland gehen. Sie müssen – weil sie in ihrem Heimatland keine Arbeit finden oder zu wenig verdienen. Die Grundfreiheit ermöglicht ihnen den Gang ins EU-Ausland. Was ist die Alternative?

Die Welt, wie Werner Vontobel sie beschreibt, besteht aus Staaten, die ein perfektes System abbilden: Alle Arbeitnehmer*innen finden im Inland einen Arbeitsplatz, bei dem sie glücklich sind und gut bezahlt werden. Niemand muss umziehen für seinen Job. Es gibt auch keinen Fachkräftemangel, wie die Schweiz ihn kennt. 

Nur: So läuft es leider nicht. Die verschiedenen Länder bringen nicht die gleichen Voraussetzungen mit. Nicht in jedem Land gibt es die gleichen Chancen. Da kann die Wirtschaftspolitik noch so ausgefeilt sein: Hat ein Land wenig Ressourcen, keinen Reichtum, dann wird es schwer. Warum nicht in ein Land ziehen, das einen Arbeitsplatz bietet? Dass Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland ausgebeutet werden, ist unentschuldbar. Befeuert wird das allerdings vom kapitalistischen System und nicht durch die Grundfreiheiten.

Der Brexit war kein Denkzettel an die EU 

Abgesehen davon: Können sich die Menschen in Grossbritannien durch den Brexit auf mehr Wohlstand und soziale Sicherheit freuen? Wohl kaum. Der Brexit trifft das Vereinigte Königreich härter als die EU. Dazu kommt die Corona-Krise. Immerhin im Corona-Impfnationalismus ist Grossbritannien vorne mit dabei.

Auch auf den Brexit kommt Werner zu sprechen und verkauft ihn als ein Aufbegehren gegen die EU-Grundfreiheiten und die oberen 20 Prozent der regierenden EU-Elite. Er warnt, dass deshalb auch andere Länder einen Exit erfahren könnten.

Obwohl für die Brexit-Kampagne Ausländer*innen (vor allem osteuropäische Arbeiter*innen) als Sündenböcke herhalten mussten, gab es in den Brexit-Hochburgen kaum Zuwanderung, im Vergleich zu London etwa. Und Arbeitsplätze von Einheimischen schnappten sie auch nicht weg. Doch die Wähler*innen waren seit Jahren unzufrieden mit ihrer wirtschaftlichen Situation. Schlussendlich war der Brexit vielmehr als Denkzettel an die britische Regierung zu lesen als an die EU.

Die EU-Bürger*innen sind aber nicht der Grund für die wirtschaftlichen Probleme in vielen abgehängten Regionen. Viele Brit*innen haben es schlichtweg nicht verkraftet, dass das Land nicht mehr das Empire ist, was es einmal war. Kein Wunder, dass die Wähler*innen die dreiste Lüge über das staatliche Gesundheitssystem NHS und an die EU verlorene Millionen glaubten, die die Brexiteers propagierten. Sie wollten es glauben, denn sie sind schon immer EU-skeptisch gewesen. 

Du willst mehr Argumente?

Werner schreibt, wenn die EU auf die Forderungen der Schweiz eingeht, könnten sich andere Völker motiviert fühlen, auch eine andere Wirtschaftspolitik und einen Exit aus der EU zu fordern. Wenn überhaupt, wird es negativ auf die Schweiz zurückfallen, die wieder mal eine Extrawurst rausverhandelt hat, während sie zu den grossen Profiteur*innen der EU-Wirtschaftspolitik gehört.

Abgesehen davon: Können sich die Menschen in Grossbritannien durch den Brexit auf mehr Wohlstand und soziale Sicherheit freuen? Wohl kaum. Der Brexit trifft das Vereinigte Königreich härter als die EU. Dazu kommt die Corona-Krise. Immerhin im Corona-Impfnationalismus ist Grossbritannien vorne mit dabei.

Und die Schweiz?

Die Schweiz ist in einer komfortablen Lage. Bisher konnte sie vom Binnenmarkt profitieren, ohne allzuviel dafür zu geben und ohne EU-Bürger*innen volle Freizügigkeit zu gewähren. Sie kann sehr zufrieden als Nicht-EU-Mitglied sein. Werner blendet aus, wie sehr der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz von der EU abhängt. Die EU ist für sie der wichtigste Wirtschaftspartner, 70 Prozent der Schweizer Importe stammen aus der EU und 52 Prozent der Schweizer Exporte gehen an sie. Laut einer Studie profitiert die Schweiz wirtschaftlich sogar am meisten – und damit auch mehr als EU-Mitglieder – vom Binnenmarkt.

Ohne die wirtschaftliche Leistung der Schweiz kleinreden zu wollen: Die EU ist der grössere Player. Sich abschotten und ihr eigenes Ding machen zu wollen, ist schwierig für die Schweiz. Sie ist nicht autark und hat gar keine andere Wahl, als sich langfristig mit der EU zu einigen – wenn sie nicht massive wirtschaftliche Einbussen in Kauf nehmen will. 

Solidarität und Diplomatie

Zum Schluss ein wichtiger Reminder, warum es die EU überhaupt gibt. Die Frage klingt banal, aber daran sollte sich jede*r erinnern, wenn mal wieder nur ein mickriger Kompromiss nach einem EU-Gipfel zustande gekommen ist. Die EU, beziehungsweise ihr Vorgänger, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, wurde gegründet, um nach dem Zweiten Weltkrieg den Frieden in Europa zu bewahren. Ja, sie ist eine Wirtschaftsunion, aber auch eine Solidargemeinschaft.

Die Zusammenarbeit, die gemeinsamen Werte und Regeln sollen verhindern, dass ein EU-Staat mit einem anderen einen Krieg anfängt. Als Deutsche habe ich diese Verantwortung stark verinnerlicht. Die EU ist nicht perfekt, aber sie hat Eigenschaften, die sie unverzichtbar machen. Auch für die Schweiz.

Werni Rahmenabkommen
Volk gegen Regierung statt Schweiz gegen EU

Beim Rahmenabkommen geht es letztlich um die demokratische Legitimation des EU-Konstrukts, sagt Werner Vontobel. Hier gelangst du zu seiner Kolumne.

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