Mission Parmelin aus Basler Sicht

Die Unionsbürger*innenrichtline gilt als der ultimative Knackpunkt des ausstehenden EU-Rahmenabkommens. Aber was heisst eigentlich der «Eintritt in die Sozialwerke» und was würde er für Basel bedeuten?

Dreiländerbrücke Eu Basel
Schweiz, Deutschland, Frankreich: In Basel kommt sich Europa nahe. (Bild: Keystone/SDA)

Basel ist als Grenzstadt so europäisch geprägt wie kaum eine Stadt in der Schweiz. Umso wichtiger ist eine gute Beziehung zu der EU, dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz. Genau deshalb wünschen sich viele Politiker*innen in Basel ein Fortkommen in den bilateralen Gesprächen mit der EU. «Die Region Basel kann von einem Rahmenabkommen stark profitieren. Wir sind ein offener und über die Grenze zusammenarbeitender Wirtschaftsstandort und leben das auch», sagt der Basler Freisinnige Luca Urgese.

SP-Nationalrätin Sarah Wyss sieht das Abkommen als entscheidend für die Planungssicherheit der Unternehmen: «Wir sind nicht autark, ein Handelshemmnis wäre schlecht für die Wirtschaft.» Auch Nationalrat Eric Nussbaumer (BL) findet, die Schweiz und Basel hätten ein grosses Interesse, ihre Sonderrolle mit der EU zu klären. «Es wäre für beide Seiten ein Debakel, wenn es keine Lösung gibt.»

Seit Ende 2018 liegt der Schweiz ein neues Abkommen mit der Europäischen Union auf dem Tisch. Es wartet eigentlich nur auf eine Unterschrift. Aus Sicht der EU ist alles geklärt, für die Schweiz aber gibt es noch Probleme. 

Knackpunkt Unionsbürger*innenrichtlinie

Die meisten Politiker*innen wollen also ein Rahmenabkommen für die Schweiz. Aber irgendwie kommt es nicht zustande. Als grösste Knackpunkt gilt die Unionsbürger*innenrichtlinie. Von rechter Seite wird vor der «Einwanderung in die Schweizer Sozialwerke» gewarnt. Aber wen betrifft das eigentlich genau? Und was bedeutet das für die Menschen in Basel? 

Basel hat einen Ausländer*innenanteil von 36,8 Prozent (Stand: März 2020), die meisten davon sind EU-Bürger*innen. Sie betrifft das Ergebnis des Rahmenabkommen unmittelbar. Die Unionsbürger*innenrichtlinie spielt eine wichtige Rolle für das Leben in der Schweiz. Das würde zum Beispiel den Anspruch auf staatliche Sozialleistungen betreffen. Auch das Ausschaffen von EU-Bürger*innen wäre mit der Richtlinie schwieriger – für die Schweizer Verhandlungsdelegation bisher ein absolutes No-Go.

Aber werden wir konkret.

Die rumänischen Bettler*innen in Basel bekämen keine Sozialhilfe

Seit Monaten sind die Bettler*innen aus dem EU-Staat Rumänien ein Streitpunkt in Basel. Sie haben kein Aufenthaltsrecht. Würde sich das mit der angenommenen Unionsrichtlinie ändern? Nein, sagt Europarechtlerin Christa Tobler vom Europainstitut der Uni Basel: «Auch bei voller Übernahme der Richtlinie wäre es nicht so, dass man in ihrem Rahmen zum Betteln einwandern könnte. Ein Aufenthaltsrecht entsteht grundsätzlich nur dann, wenn jemand genug Geld zum Leben hat (durch Arbeit oder aus Vermögen).» Sozialhilfe könnten die Bettler*innen also auch mit der Unionsbürger*innenrichtlinie nicht beziehen.

Unionsbürger*innenrichtlinie

Die Unionsbürger*innenrichtlinie regelt zum Beispiel das Aufenthaltsrecht von EU-Bürger*innen und ihren möglichen Anspruch auf Sozialhilfe. Die EU verlangt, die Richtlinie ins Abkommen aufzunehmen, die Schweiz würde darauf lieber verzichten. Das grösste Druckmittel der EU: Der Zugang zum Binnenmarkt. Und: Das Rahmenabkommen mit der Schweiz ist in seiner Art einmalig, es ist eine bilaterale Extrawurst.

Arbeitslose Arbeitnehmer*innen mit B-Bewilligung nicht mehr einfach ausschaffen

Ein wenig anders sieht es mit Aufenthaltsbewilligungen aus. Aktuell haben EU-Bürger*innen mit B-Bewilligung laut Ausländer- und Integrationsgesetz keinen Anspruch auf Sozialhilfe, wenn sie ihre Anstellung verlieren. Als Arbeitslose dürfen sie noch sechs Monate in der Schweiz bleiben, um in dieser Zeit eine neue Stelle zu finden – ansonsten werden sie ausgeschafft. Gleiches kann auch Personen mit C-Bewilligung passieren. Sie haben zwar eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung und das Recht auf Sozialhilfe. Beanspruchen sie diese aus Sicht des Staates jedoch zu lange und in zu grossem Umfang, kann die Bewilligung widerrufen werden. Auch eine Rückstufung auf eine B-Bewilligung ist möglich, wenn die Person länger keiner Arbeit nachgeht. Dann ist auch eine Ausschaffung nicht mehr ausgeschlossen. 

Mit der Unionsbürger*innenrichtlinie wäre eine Ausweisung aufgrund eines Arbeitsverlustes nicht ohne Weiteres möglich. «In keinem Fall sollte eine Ausweisungsmassnahme gegen Arbeitnehmer, Selbstständige oder Arbeitssuchende (...) erlassen werden, ausser aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit.» Im europäischen Recht ist ausserdem vorgesehen, dass nach 5 Jahren ordentlichen Aufenthalt ein Recht auf Daueraufenthalt besteht. Das ist in der Schweiz aktuell nicht so.

Schweizer*innen gleich behandeln wie zugewanderte EU-Bürger*innen

Wie hoch die Sozialhilfe ausfällt und ab wann sie gezahlt wird, bestimmt aber immer noch die Schweiz. Nur müssten EU-Ausländer*innen und Schweizer*innen gleich behandelt werden.

Bürgerliche wie Luca Urgese von der FDP befürchten durch die Anpassungen an europäisches Recht eine «Einwanderung in die Sozialwerke», deshalb wäre die Richtlinie so momentan in der Schweiz nicht mehrheitsfähig. Urgese sagt, da es ein Wohlstandsgefälle in der EU gibt, spiele das Sozialsystem beim Einwandern in die Schweiz durchaus eine Rolle. «Und über die Unionsbürgerrichtlinie hätte man relativ schnell Zugriff auf die Sozialwerke.» Da die Richtlinie gar nicht im Abkommen erwähnt wird, müsste man klären, was das heisst. «Es ist ein solidarisches System, deshalb muss man selbst erst etwas leisten und einzahlen, bevor man Leistungen daraus bezieht. Und nicht schon nach einem halben Jahr. Das ist auch wichtig für die Akzeptanz der Zuwanderung.»

Wie die Schweiz «Zugang zum Sozialwerk» regelt, bleibt ihr überlassen

«Der vereinfachte Zugang zum Sozialwerk ist am Ende nicht so einfach», meint dagegen die Sozialdemokratin Sarah Wyss. «Jedes Land hat trotzdem das Recht, das individuell auszugestalten. Man kann also noch gar nicht sagen, dass ein Anspruch auf Sozialhilfe hochschnellen würde.» Es müsse dann Regeln geben wie eine Mindestzahl von gearbeiteten Monaten. Wyss gibt zu bedenken: «Es steht aber noch gar nicht fest, ob und wie das Unionsbürgerrecht tatsächlich von der Schweiz übernommen wird. Selbst, wenn das Abkommen jetzt angenommen wird, braucht es danach weitere Verhandlungen im gemischten Ausschuss und eventuell eine Volksabstimmung, bis das entschieden ist.»

Eric Nussbaumer, SP-Nationalrat und Vizepräsident der Europaparlament-Delegation, stimmt seiner Parteikollegin zu: «Die Leute können trotzdem nicht einfach kommen und Sozialhilfe bekommen.» Und auch wenn es schon nach 5 Jahren das Recht auf Daueraufenthalt gebe, das sei nicht der entscheidende Punkt: «Es geht darum, dass bei denjenigen, die jahrelang anständig arbeiten, nicht mehr zwischen Inländern und Ausländern unterschieden werden sollte.» 

Was ist mit den Grenzgänger*innen?

Auch für die rund 34’400 Grenzgänger*innen in Basel könnte das Rahmenabkommen Konsequenzen haben. Das Besondere bei ihnen: Im Moment zahlen sie Beiträge an die Sozialversicherungssysteme im Land, in dem sie arbeiten, also in der Schweiz. Verlieren sie ihre Arbeit, bekommen sie aber Arbeitslosengeld von dem Staat, in dem sie wohnen. Um das auszugleichen, muss die Schweiz Geld an den Wohnsitzstaat zahlen. Das gleicht die Kosten aber nicht unbedingt aus. Deshalb will die EU regeln, dass Grenzgänger*innen das Arbeitslosengeld neu von dem Staat erhalten, wo sie Sozialversicherungsbeiträge zahlen.

Müssten ausländische Firmen ihren Angestellten auch den Basler Mindestlohn zahlen?

Ja. Allerdings ist dies in einem weiteren Streitpunkt des Abkommens geregelt. In den Flankierende Massnahmen (FLAM). Die FLAM sind Regeln zum Arbeitsschutz in der Schweiz. Sie sollen sicherstellen, dass sich ausländische Unternehmen, die Arbeiter*innen in die Schweiz schicken, an die Schweizer Regeln zum Arbeitsschutz halten und Mindestlohn zahlen. Ein Punkt in der Debatte betrifft die 8-Tage-Regel, nach der ausländische Arbeiter*innen 8 Tage vor ihrem Arbeitsbeginn in der Schweiz angemeldet werden müssen. Die EU will die Frist auf 4 Tage verkürzen – ein Kompromissangebot an die Schweiz, um die Regeln nicht ganz flöten gehen zu lassen.

Für Sarah Wyss von der SP sind die Flankierenden Massnahmen und der damit verbundene Lohnschutz in der Diskussion wichtiger als die Unionsbürger*innenrichtlinie, da dieser im Gegensatz zur Richtline nicht nachverhandelt werden könne. «Der Lohnschutz ist nicht verhandelbar und Guy Parmelin muss stark in die Verhandlungen gehen, damit die flankierenden Massnahmen weiterhin wie bisher gelten, inklusive der 8-Tage-Regel», sagt Wyss.

Der bürgerliche Luca Urgese widerspricht: «In den Verhandlungen müssen wir eine gewisse Flexibilität an den Tag legen. Ob es am Ende 8 oder 4 Tage sind, ist nicht entscheidend, sondern das Ziel: Lohndumping zu verhindern.» Trotzdem findet Urgese, dass es die Flankierenden Massnahmen braucht. «Es gibt einen grossen Gap zwischen den Arbeitsbedingungen und dem Lohn in der Schweiz und in den Nachbarländern. Deshalb braucht es gewisse Schutzmassnahmen.» 

Die EU und die Schweiz müssten sich einigen und damit alle Befürchtungen ausräumen, auch damit keine Stimmung mit falschen Tatsachen gemacht werden kann, meint Urgese. «Das heisst nicht, dass das Abkommen komplett neu ausgehandelt werden muss, aber es gibt Spielraum für Klärungen.» Er würde es bedauern, wenn es morgen heisst, dass man weiter über das Abkommen reden müsse. «Dann wird es sich wieder hinziehen. Irgendwann muss man sagen, was man will.»

Kurz gesagt: Die Unionsbürger*innenrichtline besagt grundsätzlich, dass zugewanderte Arbeitnehmer*innen nach einer gewissen Zeit die gleichen Ansprüche haben, wie Angestellte mit Schweizer Pass. Dass es absolut aussichtslos sein soll, für dieses Anliegen eine Bevölkerungsmehrheit zu finden, bleibt die fragwürdigste Aussage im Gerangel um das Rahmenabkommen. Aber jetzt soll erstmal Präsident Parmelin ran.

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