Sollte sich Basel die Wahlpflicht von Schaffhausen abschauen?
Die Wahlbeteiligung in der Schweiz erreicht selten 50 Prozent. Viele nutzen ihr Recht zu wählen also nicht. Ist das demokratisch oder bräuchte es eine Pflicht, sich zu beteiligen?
Ein Grossteil der Bevölkerung beteiligt sich nicht an den Wahlen, auch am vergangenen Sonntag. Entweder, weil sie nicht dürfen oder weil sie nicht wollen. Im Kanton Basel-Stadt lag die Stimmbeteiligung bei knapp 50 Prozent, aber auch hier sind es gemessen an der Wohnbevölkerung viel weniger, die tatsächlich mitbestimmen.
Was also tun? Muss man die Bevölkerung per Pflicht zur Wahlurne zwingen? Die Bajour-Community fällt dazu ein klares Urteil in der Frage des Tages: 60 Prozent wollen keine Wahlpflicht. Das spiegelt sich auch in den Kommentaren: Mit Ausnahme der ehemaligen Mitte-Grossrätin Beatrice Isler-Schmid, die angesichts der tiefen Wahlbeteiligung «versucht ist, ja zu sagen». Dabei gibt es in der Schweiz einen Ort, an dem das zu funktionieren scheint: In Schaffhausen ist die Teilnahme an Abstimmungen und Wahlen nämlich obligatorisch, dementsprechend ist die Beteiligung höher: Am Sonntag lag sie bei etwa 60 Prozent. Sollte sich Basel oder gar die ganze Schweiz die Wahlpflicht von Schaffhausen abschauen, zugunsten einer höheren Beteiligung?
Genau genommen ist das eine ungenaue Aussage, eher müsste es heissen: 46,6 Prozent der Stimmberechtigten haben gewählt. Rechnet man das auf die Gesamtbevölkerung, sind es am Schluss sogar nur 28 Prozent der Schweizer Bevölkerung, die effektiv Wahlunterlagen ausgefüllt und rechtzeitig abgegeben haben.
Die Politologin Sarah Bütikofer hat dazu eine klare Meinung. «Auch in anderen Kantonen gab es eine solche Wahlpflicht wie in Schaffhausen, aber die wurde überall abgeschafft», erklärt sie. «In Basel wachsen die Leute damit auf, dass es ihnen überlassen ist, wie weit sie sich politisch beteiligen wollen.» In Schaffhausen hingegen sehe die Wählerschaft die Teilnahme als eine staatsbürgerliche Pflicht an. «Etwas, das zum Kanton gehört, wie in Basel die Fasnacht», sagt sie. «Klar wäre die Wahlbeteiligung mit einer Wahlpflicht auch in Basel oder schweizweit höher, aber automatisch besser für unsere Demokratie wäre das deshalb nicht.»
Im Gegenteil: «Die entscheidende Frage ist: Wen würde man mit einer Wahlpflicht überhaupt erreichen?», sagt Bütikofer und zählt die verschiedenen Gruppen von Nicht-Wähler*innen auf: Nicht-Interessierte Personen, weniger gebildete Personen, in schwierigen Umständen lebende Personen, Politikverdrossene. «Die grösste Gruppe der Nicht-Wählenden in der Schweiz sind die Passiv-Zufriedenen», also die Personen, die sich nicht so für Politik interessieren.
«Wenn man nun diese Personen zwingt, eine Parteiliste in die Urne zu werfen, ändert sich deshalb nicht automatisch ihr Interesse.» In der Konsequenz hiesse das: Mehr schlecht informierte Personen an den Urnen. Und genau das sieht Bütikofer kritisch. «Für die Parteien wäre es einfacher, mit polemischen Argumenten Politik zu machen. Ob das für unsere Demokratie besser wäre, wage ich zu bezweifeln.»
Die Politologin weist auch auf den Unterschied zwischen Wahlen und Abstimmungen hin: «Bei Wahlen ist die Beteiligung konstant tief, aber Wahlen gelten in der Schweiz auch als weniger relevant als zum Beispiel in Deutschland, weil sich unsere Regierung nicht direkt aus dem Kräfteverhältnis im Parlament ableitet. Bei Abstimmungen ist das aber anders: Diese sind wichtiger und die Beteiligung variiert extrem je nach Thema.» Es gibt durchaus Abstimmungen, die sehr stark mobilisieren, zum Beispiel die Durchsetzungsinitiative der SVP 2016, als die Stimmbeteiligung bei knapp zwei Drittel lag. Auch die Abstimmungen zum Covid-19-Gesetz wiesen eine hohe Stimmbeteiligung auf. «Die Wahlbeteiligung zeigt nicht das ganze Spektrum der politischen Kultur in der Schweiz, sie ist nur ein kleiner Teil unserer gelebten Demokratie», so Bütikofer.
«Die Wahlbeteiligung zeigt nicht das ganze Spektrum der politischen Kultur in der Schweiz, sie ist nur ein kleiner Teil unserer gelebten Demokratie.»Sarah Bütikofer
Würde es denn der Beteiligung bei den Wahlen helfen, wenn die Wahlen weniger kompliziert wären? Ohne Listenverbindungen zum Beispiel? «Die Wahlteilnahme ist sicher ein bisschen kompliziert, vor allem für Personen, die nicht regelmässig wählen. Aber dass sie in die Höhe schnellen würde, wenn man Listenverbindungen abschaffen würde, glaube ich nicht», erklärt Bütikofer. Die Politikinteressierten würden heute ja zurechtkommen mit den vielen Wahlzetteln. «Es ist aber fraglich, ob es für die Nicht-Interessierten wirklich so hilfreich wäre, wenn es nur noch eine Liste pro Partei gäbe. Denn auch da müssten sie sich ja in fast allen Kantonen über mindestens ein halbes Dutzend verschiedene Parteien informieren. Das wäre also immer noch ein rechter Aufwand.»
Die Bajour-Community will keine Wahlpflicht. Engagiert diskutiert wurde trotzdem. Willst du dich auch noch einbringen? Bittesehr:
Auffälliger als ein mangelndes Interesse an der Politik findet Bütikofer aber einen anderen Punkt: «Speziell in der Schweiz ist doch, dass unsere Stimmbevölkerung immer weniger mit der Wohnbevölkerung übereinstimmt.» Tatsächlich wohnen in Basel-Stadt rund 37 Prozent Ausländer*innen, die sich an den Wahlen und Abstimmungen nicht beteiligen dürfen.
«Auch in Genf oder in der Stadt Zürich ist der Ausländeranteil sehr hoch, die meisten kommen, wie in Basel, aus Europa. In einer Stadt wie Basel, Zürich oder Genf mit der lokalen Industrie, den internationalen Firmen und Organisationen, mit den Universitäten und der Kultur leben sehr viele gebildete Personen ohne politische Rechte in der Schweiz, die grundsätzlich interessiert wären an der Politik.» Gemäss Bütikofer wäre das Ausländerstimmrecht eine Schraube, an der man drehen könnte, um die Wahlbeteiligung von an Politik interessierten Personen zu erhöhen.
«Weder mit Einführung des Stimmrechts für Ausländer*innen noch bei den Jungen ist zu erwarten, dass deshalb alle in Scharen an die Urnen rennen würden.»Sarah Bütikofer
Eine andere diskutierte Massnahme ist die Senkung des Stimmrechtsalters auf 16. Bütikofer mahnt aber nicht zu vergessen: «Die 16- oder 17-Jährigen sind eine kleine Gruppe. Dass man diese Personen früher an die Wahlen heranführt, könnte einen positiven Effekt auf ihr Interesse an der Politik und ihr späteres Teilnahmeverhalten haben. Aber weder mit Einführung des Stimmrechts für Ausländer*innen noch bei den Jungen ist zu erwarten, dass deshalb alle in Scharen an die Urnen rennen würden.»
Also ist es im Grossen und Ganzen gut so, wie es ist? Das Fazit der Politologin klingt jedenfalls danach: «Die Schweizer und Schweizerinnen haben es sich so eingerichtet, wie es jetzt ist. Sie sind im grossen Ganzen mit dem System zufrieden.»
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