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Zehnders Wochenkommentar

Was die Medien in der Coronakrise gut gemacht haben

Ich kritisiere die Medien gern und häufig. Aber ich habe genug von schlechten Nachrichten: Was haben Journalist*innen 2020 wirklich gut gemacht? Hier kommen meine fünf Highlights des Jahres.

12/21/20, 12:56 PM

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(Foto: Pixabay)

Medienkritik ist eines meiner zentralen Themen. Ein Grund dafür ist die schwierige, ökonomische Situation, in der sich Medien befinden. Die alten Ertragsmodelle funktionieren nicht mehr. Um im Internet möglichst viel Werbung verkaufen zu können, versuchen die Medien auf Teufel komm raus die Aufmerksamkeit der Nutzer*innen zu holen und zu behalten – mit fatalen Folgen für den Inhalt.

Aber das alles kümmert mich heute für einmal nicht. Ich habe mich diese Woche gefragt: Was haben die Medien im Coronajahr 2020 gut gemacht? Wo haben mir welche Angebote weitergeholfen? Auf was möchte ich auch künftig nicht verzichten?

Ich bin auf fünf Aspekte gekommen – zu allen fünf Punkten habe ich die aus meiner Sicht besten Beispiele zusammengetragen.

1) Datenjournalismus in Echtzeit

Jahrelang war gefühlt in jedem zweiten Journalismus-Seminar die Rede von Datenjournalismus. Allerdings konnten sich wohl auch viele Journalist*innen nicht viel darunter vorstellen. Zwar bieten viele Kantone und der Bund mittlerweile Zugriff auf offene Daten, es ist aber gar nicht so einfach, aus den Datenbergen Geschichten zu machen.

Im März änderte sich das schlagartig: Zahlen spielten in unser aller Alltag plötzlich eine zentrale Rolle. Zu Beginn herrschte in der Schweiz ein mittelgrosses Chaos, weil das Bundesamt für Gesundheit (BAG) gar nicht in der Lage war, die Zahlen aus den Kantonen digital zu verarbeiten.

Das Bundesamt wurde im März überrollt – und überholt. Und zwar von einem Doktoranden der Universität Bern: Daniel Probst programmierte in seiner Freizeit die Website Corona-Data, auf der er die Corona-Fallzahlen der Kantone zusammenstellte, übersichtlicher und vor allem aktueller, als es das BAG (damals) schaffte. «Einige Schweizer halten denn auch die Zahlen auf seiner Plattform für aussagekräftiger als die offiziellen des BAG», schrieb die «NZZ» im März.

(Foto: https://corona-data.ch/)

Mittlerweile hat das BAG zwar technisch etwas aufgeholt und ist auch in der Lage, Grafiken zu produzieren, Daniel Probst hat seine Seite aber ebenfalls weiterentwickelt. Er habe «ein paar Wochenenden» an dieser neuen Version seiner Website gearbeitet, schreibt er.

Die Stärke des Angebots ist, dass es Daten aus den Kantonen, dem BAG und aus internationalen Quellen integriert. Zu den Kantonen sind detaillierte und historische Informationen verfügbar. Darüber hinaus gibt es Google Mobility Daten sowie Daten zur Übersterblichkeit für die Schweiz und andere Länder.

Corona Data ist kostenlos, Open Source und «völlig und entschieden gemeinnützig», wie Probst schreibt. Die Website ist für mich das beste Beispiel, wie man mit vergleichsweise einfachen Mitteln Datenjournalismus machen kann – es setzt bloss viel Know How voraus.

Jetzt sagen Sie vielleicht: Aber Corona-Data, das ist doch nur eine Website, das ist doch kein Medium und kein Journalismus. Genau deshalb ist es für mich ein gutes Beispiel. Medien, das sind nicht mehr einfach nur die Produkte der grossen Verlage. Ein Medium ist das, was Empfänger*innen wie ein Medium benutzen. (Es ist etwas komplizierter, ich habe genau darüber meine Dissertation geschrieben… Aber lassen wir das.) Das kann die Website einer Zeitung sein, aber eben auch eine Firmeninformation, ein Blog oder so eine Daten-Site (und genau das ist natürlich das Problem der Verlage: Sie haben ihr «Informationsmonopol» verloren).

(Foto: https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/coronavirus-echtzeit-karte-deutschland-landkreise-infektionen-ausbreitung)

Wenn Sie sich ansehen möchten, wie die Coronazahlen aussehen, wenn ein Verlag so richtig Ressourcen reinpowert, dann gehen Sie auf die Website der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit»: Hier bereitet das Datenteam der «Zeit» die Coronadaten auf – leider nur für Deutschland. Auf einer Karte sind bis auf Landkreisebene die Fälle und die Inzidenz angegeben und farblich eingezeichnet. Darüber hinaus gibt es Daten zu den freien Intensivbetten und den Todesfällen.

Ein Klick auf einen Landkreis zeigt die Daten neben der Karte im Detail – wirklich schön gemacht. Aber aufwändig. In einer Podcastfolge von «Hinter der Geschichte» erklärt Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner, was hinter dem Datenportal der «Zeit» steckt.

Kein Wunder, backen die Schweizer Medien etwas kleinere Brötchen. Immerhin haben sich die Datenangebote von SRF und Tamedia im Laufe des Jahres zu guten Informationsquellen entwickelt. Das Zahlenangebot von SRF Data bietet ebenfalls Zugriff auf die wichtigsten Kerndaten und gute Verlaufsgrafiken, es ist aber eher wie ein Ticker-Artikel aufgebaut. Die Seite ist informativ, aber ich muss mit die Angaben zusammensuchen.

Die Tamedia-Zeitungen nennen das Datenangebot «Corona-Dashboard» und wie bei SRF muss ich es jedesmal auf der Webseite erst suchen. Auch das Tamedia-Angebot bietet eine Fülle von Zahlen, gut aufbereitet ist die Liste mit den Kantonszahlen. Die Liste lässt sich sortieren nach Fallzahlen, Inzidenz und nach IPS-Auslastung. Interessant ist auch eine Grafik, die es möglich macht, beliebige Kantone und Länder miteinander zu vergleichen. Ich sehe auf einen Blick, wo mein Kanton steht. Anders als das Angebot von SRF liegt das Tamedia-Angebot hinter der Bezahlschranke.

2) Pressekonferenzen des Bundesrats auf YouTube

Daten sind in der Coronazeit das wichtigste Rohmaterial für Informationen. Ähnlich wichtig sind eigentlich nur die Entscheide des Bundesrats. Diese Pressekonferenzen sind 2020 zu einem Fixpunkt in meinem Medienkonsum geworden.

Ich schaue mir, wenn möglich, immer die Übertragung auf YouTube an. Anders als die Live-Übertragung auf SRF kann ich auf YouTube jederzeit Pausieren, wenn mich jemand anruft, zudem wird Bundesrat Berset nicht overdubbed mit einer deutschen Übersetzung. Nein, ich verstehe auch nicht immer alles, aber ich höre es lieber im Original und bilde mir ein, dass ich dabei mein Französisch etwas aufpolieren kann.

Beeindruckt haben mich an den Bundesrats-Pressekonferenzen in diesem Corona-Jahr beide Seiten: Die kritisch nachfragenden Journalist*innen – und die Landesexekutive, die sich live und ohne Netz und doppelten Boden diesen kritischen Fragen stellt.

Wenn man die Pressekonferenzen regelmässig schaut, kennt man mit der Zeit die Journalist*innen und ihren Fragestil, wie Protagonist*innen in einem Western. Da ist der im Ton stets freundliche, in der Sache aber hart nachfragende Georg Häsler Sansano von der «NZZ». Oder Nathalie Christen von der SRF-Bundeshausredaktion, immer smart und eloquent. Da ist Matthias Bärlocher, der mit grossen «Nau.ch»-Stickern auf seinem Notebook dafür sorgt, dass alle Zuschauer mitbekommen, für welches Medium er arbeitet. Da sind Beni Gafner von der «BaZ» (sehr kritisch), Christoph Lenz von Tamedia (sehr ostschweizerisch), Hubert Mooser von der «Weltwoche» (oft etwas pflaumig) und die hartnäckige Eva Novak (freie Journalistin).

Der Bundesrat muss sich all ihren Fragen, ihren Bemerkungen – und ihrer Kritik stellen. Es ist der Exekutive hoch anzurechnen, dass sie das tut – und den Journalist*innen, dass sie auch dann kritisch und «mühsam» bleiben, wenn sie im Schaufenster stehen. Ihnen sei, ganz nach Bertolt Brechts «Legende von der Entstehung des Buches Taoteking» auch gedankt (in der letzten Strophe heisst es da: Aber rühmen wir nicht nur den Weisen).

3) Die Wiedergeburt des guten, alten Newsletters

2020 war für mich das Jahr des Newsletters: Nach Jahren, in denen Apps und Webanwendungen im Vordergrund standen, haben sich (zumindest in meiner Wahrnehmung) eine ganze Reihe von Medien wieder an den guten, alten Newsletter erinnert.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die persönliche Ansprache gerade im Jahr der Lockdowns wichtig wurde. Denn ein guter Newsletter funktioniert ganz ähnlich wie ein Barkeeper oder ein Butler: Er weiss, was sein*e Kund*in erwartet, bedient sie*ihn freundlich und persönlich, schaut dabei aber darauf, dass er selbst nicht zu sehr auffällt.

Newsletter haben zudem den Vorteil, dass sie ohne amerikanische Digitalkolosse funktionieren. Wer eigene Leistungen nur über Facebook oder Twitter verbreitet, macht sich von den Social-Media-Firmen abhängig. Man weiss nie, was die unter der Kühlerhaube grad am rumschrauben sind. Umgekehrt hat, wer einen Newsletter abonniert, einen direkten Draht zum Medium oder sogar zu den Journalist*innen und muss nicht fürchten, dass ein Social-Media-Algorithmus daran herumgefummelt hat.

Welche Newsletter sind mir 2020 besonders aufgefallen, welche habe ich selbst gerne gelesen? Natürlich das tägliche «Basel Briefing» von Bajour (Disclaimer: Ich habe Bajour mitbegründet), da fühle ich mich jeden Morgen freundlich und flott mit den Basler Nachrichten bedient. Die bringen wirklich «News Macchiato»!

In einem ähnlichen Ton verfasst ist der «Covid-19-Uhr-Newsletter» der «Republik» – Kunststück: Marguerite Meyer, die (unter anderen) den Newsletter verantwortet, hat vorher für Bajour gearbeitet. Der Newsletter der «Republik» ist übrigens kostenlos (und damit ein Beispiel für Corona-Information, die nicht hinter der Bezahlschranke verschwindet). An diesen Newslettern schätze ich die persönliche Ansprache.

Das ist keine unpersönliche ARD-Tagesschau (deren Chefsprecher Jan Hofer hatte diese Woche übrigens nach fast 36 Jahren seinen letzten Arbeitstag und hat vor laufender Kamera die Krawatte ausgezogen). Ich schätze das Unpersönliche, Nüchterne sehr, in diesen garstigen Zeiten ist es aber manchmal schön, an der Hand genommen zu werden von einem Menschen, der weiss, was diese Welt gerade mit einem macht.

Andere Newsletter, die ich regelmässig lese und schätze sind zum Beispiel «Le Point du Jour» von Heidi News (Achtung; Französisch), oder die «Briefings» der «NZZ», die einen guten Überblick vor allem über internationale Nachrichten aus Schweizer Sicht bieten. Sie sind aber unpersönlicher.

Newsletter müssen nicht aus Medienhäusern stammen. Sie ermöglichen es auch, den direkten Draht zu interessanten Menschen zu pflegen. Ein Beispiel für mich ist der Newsletter von Henrik Nordborg. Er ist Professor für Physik an der Fachhochschule Ost in Rapperswil. In seinem Newsletter beschäftigt er sich (leidenschaftlich!) mit der Klimakrise.

4) Stimmen im Ohr: Interessante Podcasts

Newsletter können Nähe schaffen – besser und sinnlicher geht das mit Podcasts. Anders als eine Radiosendung hört man Podcasts meist mit Kopfhörern. Ein guter Podcast ist auf diese intime Hörsituation hin produziert.

Ich hab immer schon viel Podcasts gehört. In diesem verrückten 2020 habe ich mich manchmal ganz in meine Kopfhörer hinein zurückgezogen. Mein All-Time-Favorite-Podcast ist «Alles gesagt» von der «Zeit». «Zeit-Magazin»-Chefredakteur Christoph Amend und «Zeit-Online»-Chefredakteur Jochen Wegner befragen ihre Gäste, bis die ein Schlusswort sagen. Bei Schriftstellerin Juli Zeh und bei YouTuber Rezo dauerte das über acht Stunden.

Weil man nicht so lange miteinander reden kann, ohne zu essen und zu trinken, essen und trinken Amend und Wegener mit ihren Gästen – im Moment lassen sie ihnen ein «Fresspäckli» zukommen und man prostet sich per Zoom zu. Weil sich die Gäste dabei entspannen, entstehen extrem spannende, intime Gespräche. Meine Lieblingsfolgen in letzter Zeit waren die Gespräche mit Alice SchwarzerYuval HarariHeiko Maas und, eben: Juli Zeh.

Wir können auch Podcast.

Wir können auch Podcast.

🎧

Natürlich höre ich viele Podcasts von Radio SRF, von «Echo der Zeit» über «Regionaljournal Basel» und «Kultur kompakt» bis «Focus» (spannend: die 100 Fragen an Bundesrat Alain Berset). Aber das ist quasi Grundversorgung.

Zu den Neuentdeckungen aus dem Hause SRF gehört «Dini Mundart»: Nadia Zollinger und SRF-Dialektforscher Markus Gasser kümmern sich um unsere Dialekte. Spannend, traf und witzig. Nicht missen möchte ich «Das Coronavirus-Update von NDR Info», der wohl einflussreichste Corona-Podcast mit Christian Drosten, Leiter der Virologie in der Berliner Charité, und mit Sandra Ciesek, Leiterin des Instituts für Medizinische Virologie am Universitätsklinikum Frankfurt.

Zu meinen wöchentlichen Highlights gehören «Die Korrespondenten», eine Podcastserie von NDR Info. Ich höre vor allem «Die Korrespondenten in London» und «Die Korrespondenten in Washington». Da informieren die Grossbritannien- respektive die USA-Korrespondent*innen nicht, sie diskutieren über ihre Arbeit. Das ist sehr spannend.

Ach ja, noch eine Neuentdeckung: «Bill Gates and Rashida Jones Ask Big Questions» – Microsoft-Gründer Bill Gates und Schauspielerin und Autorin Rashida Jones diskutieren Fragen wie: Wie wird die Welt nach Covid-19 aussehen? Kann man etwas gegen die Ungleichheit tun? Warum glauben wir Lügen? Sie laden dazu spannende Gäste ein – über Covid-19 diskutieren sie zum Beispiel mit dem US-Chef-Epidemiologen Anthony Fauci.

5) Wissenschaftsjournalismus

Eines haben wir in diesem Corona-Jahr wohl alle gelernt: Wissenschaft ist eine komplizierte Angelegenheit. Medien, die über eine Wissenschaftsredaktion verfügten, konnten richtig auftrumpfen – in der Schweiz sind das allerdings fast nur noch SRF und das Wissenschaftsmagazin «Higgs».

Die Wissenschaftsjournalist*innen von SRF haben in allen Sendungen und Gefässen im Radio, im Fernsehen und online Auskunft gegeben, Studien und Berichte eingeordnet und erklärt. Sie sind dabei manchmal kaum mehr dazu gekommen, ihre eigenen Sendungen zu produzieren.

Natürlich gibt es weitere Wissenspublikationen, etwa «Spektrum der Wissenschaft» und die Wissensabteilungen von «Spiegel»«Zeit» oder «New York Times». Gerade die Coronakrise hat aber gezeigt, dass die Wissenschaft in allen Aspekten des Lebens und damit in allen Ressorts der Zeitungen eine wichtige Rolle spielt. Deshalb wünsche ich mir, dass auch in der Schweiz die Medien wieder in mehr Wissenschaftsjournalismus investieren.

Was bleibt

Und jetzt? Lässt sich nach all dem für 2020 ein Fazit ziehen? Ich versuche mir immer wieder vorzustellen, wie sich diese Pandemie angefühlt hätte, wenn sie sich 1970, 1980 oder 1990 ereignet hätte, in einer Zeit, als wir noch kein Internet hatten, der beschriebene Datenjournalismus nicht möglich war, Bundesratspressekonferenzen noch in rauchgeschwängerten Räumen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden und man Radio nur live hören konnte.

Wenn ich mir das alles überlege, bin ich dankbar für die neuen Möglichkeiten und fühle mich, bei allen Widrigkeiten, gut und umfassend informiert. Wichtig bleibt, über die Informationen nachzudenken.

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Matthias Zehnder ist Bajour-Mitgründer und -präsident. Seinen Wochenkommentar veröffentlicht er auch auf seiner Website matthiaszehnder.ch. Hier kannst du ihn abonnieren und hier unterstützen.

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