Henry wäscht sein Auto. Wahnsinn, was hier abgeht.
Der Saharastaub hat die Autos schmutzig gemacht. Aber wer wäscht denn in so einer Zeit bitte das Auto – und wozu? Auf eine Mitfahrgelegenheit unter der Bürste.
Man muss es sich leisten können, in Zeiten drohender Gefahr das Allerbanalste in den Blick zu nehmen.
Krieg. Pandemie, Klimakrise. Es sind globale Katastrophen, die uns beschäftigen. Günstige Höhenströmungen haben derweil in den vergangenen Tagen Saharastaub aus Marokko über die Schweiz getragen und den Himmel verdunkelt. Zwei Tage später sind, eine Konsequenz von bestechender Banalität, die Autos schmutzig. Und es ist zwar Krieg und Klimakrise und das Benzin kostet viel und die Coronazahlen schiessen wieder durch die Decke, aber die Leute fahren eben trotzdem stoisch nach Allschwil und waschen an der Tanke vom Blauen Elefanten den Saharastaub vom Peugeot. So verdammt einfach ist das.
In der Hoffnung, ein bisschen Halt zu finden in dieser vollkommen irren Zeit, haben wir uns mit ein paar Automobilist*innen zwischen die Bürsten gesetzt. Dort, wo das Einfache (ein sauberes Auto in Zeiten der Krise) und das Weltumspannende (Saharastaub über dem Rheinknie) zusammenkommen, ist manchmal ein guter Ort für Fragen grundsätzlicher Art. Existenzialismus am Limit. Henrys BMW ist silbergrau.
«Steig ein», sagt Henry, 77 Jahre alt durchs offene Fenster, «ich hab nichts zu verbergen». Ich steige ein. Zuallererst kommt noch der Mann von der Tanke ans Seitenfenster. Kassiert dreizehn Franken Reinigungsgebühr, schraubt die Antenne ab und reicht sie durchs Fenster hinein, dann muss die Scheibe zu. Henry schaut gelassen geradeaus, während die Limousine langsam auf einem Förderband in den Saubermachschlund hineingleitet. Der erste Waschgang beginnt. Eine dicke, weisse Schicht Seife raubt uns die Sicht. Zeit für eine erste Frage.
Sofortehrlichkeit vom Fahrersitz
Ist das, lebenspraktisch gefragt, auch ein Akt der Selbstachtung und inneren Disziplin, das Auto zu waschen während draussen die Welt vor die Hunde geht?
«Nein», sagt Henry unbeeindruckt. «Ich bin Wissenschaftler und seit zehn Jahren pensioniert. Mir ist einfach grundsätzlich sehr langweilig».
Henry hat das Prinzip dieser Unternehmung schnell begriffen. Der Waschprozess dauert vielleicht zwei Minuten und 30 Sekunden, da bleibt keine Zeit für Smalltalk. Sofortehrlichkeit vom Fahrersitz: «Der Ruhestand kränkt mich schon seit zehn Jahren. Mir fehlt mein Team, mir fehlt meine Arbeit. Ich war Gemmologe und habe an der Universität Basel doziert, eine zeitlang auch in Lausanne. Gemmologie ist die Wissenschaft von den Edelsteinen. Dafür brenne ich. Es fehlt mir so sehr. Manchmal fahre ich in die Waschstrasse, dabei ist das Auto gar nicht schmutzig. So weit sind wir schon.»
Draussen vollzieht sich gerade der spektakuläre zweite Waschgang. Es sind die Bürsten, riesige rote Walzen von links und rechts. Ob ich vielleicht kurz ein Foto – «nur zu», sagt Henry. Unter dem Tosen der Bürsten ist im BMW gerade eh kein Gespräch mehr möglich. Irgendwo blinkt eine orange Lichtorgel. Jetzt wird das Auto auch von unten besprüht. Wahnsinn, was hier abgeht.
Nächste Frage: Haben Sie angesichts der weltweit sich zuspitzenden Krisen ein gestiegenes Bedürfnis, etwas etwas zur Veränderung des Planeten beizutragen?
«Ich fühle mich machtlos», sagt Henry. «Ich sehe mich beispielsweise nicht dazu in der Lage, nach Moskau zu fahren, um Putins Treiben ein Ende zu setzen. Machtlosigkeit ist das Gefühl, das ich spüre. Nicht so sehr Ermächtigung.»
Und wie ist das, als Mann der exakten Wissenschaften zu beobachten, wie sich Fakten und unbestritten geglaubte Sicherheiten plötzlich mit den dümmsten Verschwörungstheorien messen müssen – und dabei nicht immer als Sieger vom Feld gehen?
«Das ist schwer auszuhalten. Ich habe siebzig Jahre etwas dazugelernt und ich muss sagen, es ist traurig zu sehen, dass die Welt da nicht mitmacht. Es gibt immer mehr Tatsachenverdreher und ich sehe mich ausser Stand, etwas dagegen zu tun. Wir kommen nicht vorwärts. Geschichte wiederholt sich. Immerhin konnte ich ein wenig auf meine Tochter einwirken. Und ich kann meine Grosskinder ein bisschen impfen mit dem Geist der Naturwissenschaft. Das ist gut.»
Begeisterung. Immerhin Passion.
Der Waschgang ist durch. Im Radio läuft Dvořák. «Ich liebe Dvořák, sagt Henry. Und dann spricht er, hier im Industriegebiet Allschwil, Beton überall und Benzin in der Luft, dann spricht Henry nochmal über die Gemmologie und den Reiz der Edelsteine, der für ihn nicht im Schmuck liegt, den die Steine zieren, sondern ihn reizen die Orte, von denen sie stammen. Er erzählt, wie er in Burma war in Minen, wo die Leute «schärelen und machen» und er zwischen dem Granit einen Rubin findet. Und dann erzählt er von Kolumbien, wo er in den Smaragtminen war und mit einem «schwarzen Grind» wieder rauskam, weil das so ein kohliges Nebengestein sei.
Und es soll um Himmels willen nicht kitschig oder gar rührend klingen, aber in dieser kleinen Lebensgeschichte reisst kurz ein Vorhang auf in eine ganz andere Welt mit anderen Themen und echter Bewunderung, ja, und Wertschätzung für eine Sache, oder soll man sagen: Passion.
Das Auto ist sauber. Henry muss los. Man wünscht sich einen schönen Nachmittag.
Kurzes Anklopfen an weitere Autoscheiben in der Warteschlange. Abwinken, kein Interesse, danke, nein. Man kann das niemandem übel nehmen, in Zeiten der Pandemie.
Rita, Ende siebzig, muss auch kurz nachdenken, aber sagt dann: «Also gut, steig ein. Was soll schon passieren.» Rita sagt, dass sie heute hier sei, das habe auf jeden Fall etwas mit ihrem Bedürfnis zu tun, die Dinge zu ordnen. Nicht nur mit Blick in die Welt. Auch für sie, ganz privat. «Aufräumen ist eine Tugend», sagt Rita, «das hilft mir beim Denken.»
Über was denkt sie denn nach?
«Über meine Freunde», sagt sie. «Dieses Corona hat viele ältere Leute vorsichtig und einsam gemacht. Da ist eine neue Einsamkeit. Das macht mir Angst. Ich telefoniere viel, mache Besuche.»
Rita lässt die roten Walzen ungerührt an sich vorbeischubbern. Gibt es denn etwas, was sie jetzt öfter tut, was sie vor dieser Zeit der Krisen noch nicht getan hat?
«Ich packe die Dinge früher an», sagt Rita. «Vor der Pandemie habe ich es auch mal gut sein lassen oder auf nächsten Monat verschoben. Das mache ich heute nicht mehr so. Wenn ich Lust auf etwas habe, dann mache ich das morgen.»
Der letzte Waschgang ist surreal heiter, weil da ein Bündel weicher Lappen vor der Windschutzscheibe herumtanzen wie rote Tagliatelle in Übergrösse.
«So», sagt Rita, endlich sei dieser Saharastaub wieder weg. «Der habe den Charre ganz schmuddelig gemacht. Von der Windschutzscheibe im Auto baumelt ein lustiger Elefant. Und, tolles Detail: Auf dem Revers von Ritas hellbraunem Mantel steckt ebenfalls eine goldene Brosche in Form eines Elefanten, der den Rüssel über den Rücken hält und sich mit Wasser bespritzt. Ein echtes Waschstrassen-Outfit, scherzen wir, aber dafür ist Rita insgesamt viel zu schick angezogen. Sie möchte sich lieber nicht fotografieren lassen. «Ich helfe gern, aber ich gehöre nicht in den Vordergrund».
Danke für die Mitfahrgelegenheit.
An einer anderen Waschanlage von der Kette Blauer Elefant am Ende Allschwils ist weniger los, als vor der Migrol. Es gibt hier auch keine Bürsten, dafür steht da ein Teppichreingungsautomat. Ein Mann wirft Münzen in den Automaten. Gabriel, Jahrgang 1950 spritzt das Auto nicht wegen des Saharasands sauber, «sondern weil ich heute Nachmittag zur Motofahrzeugkontrolle muss». Ein sauberes Auto sei die halbe Miete, glaubt er. «Das ist Psychologie»..
An was denken Sie in diesen Tagen zuallererst, wenn Sie am morgen erwachen, Gabriel?
«An den Krieg in der Ukraine. Ich bin fünf Jahre nach dem zweiten Weltkrieg geboren, ich hätte nicht gedacht, dass wir das in Europa nochmal erleben. Das beschäftigt mich frühmorgens zuallerest.» Gabriel war vor der Pensionierung selbst Journalist in der Schweiz und dann in Deutschland. Heute engagiert er sich in einem Verein, der Stolpersteine verlegt in Andenken an die jüdischen Opfer des dritten Reichs.
Aber heute wäscht er sein Auto. Der blaue Peugeot glitzert unter der Mittagssonne.
Und dann ist da noch Amelie, 31. Sie findet, es sei eine gute Idee, an der Autowaschanlage mit den Leuten über grosse Fragen zu sprechen. «Da kommt man aus der Bubble raus, Autowaschen müssen alle», sagt sie.
«Ausser vielleicht die Velofahrer». Die müsse man dann halt woanders fragen.
Amelie sagt, unter normalen Umständen wäre sie in so einer Zeit mit den Gedanken nur beim Krieg. Sie hat viele Freund*innen in Berlin, die haben Geflüchtete bei sich zu Hause aufgenommen. «Diese Hilfsbereitschaft berührt mich sehr».
Aber Amelie ist schwanger. In einer Woche ist der Geburtstermin. Sie will nur noch kurz das Auto waschen, damit das auch noch erledigt ist. Dann heisst es warten.
Auf dem Nachhauseweg steht ein SUV am Strassenrand. Er ist komplett verschmutzt, die Schlammspritzer reichen bis über die Rückspiegel. Das Nummernschild stammt aus der Ukraine.