Was bringt Tempo 30 unserer Gesundheit?
Was ab sofort in Paris gilt, möchte Zürich bis 2030 erreichen: Tempo 30 in nahezu der ganzen Stadt. Die reduzierte Geschwindigkeit soll den Strassenlärm reduzieren und gesundheitliche Schäden vermeiden.
Dieser Artikel ist zuerst am 26. August 2021 beim Wissenschaftsmagazin Higgs erschienen. Higgs gehört wie Bajour zu den verlagsunabhängigen Medien der Schweiz.
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Züricherinnen und Zürcher sind von Strassenlärm geplagt. Diese Mühsal will der Stadtrat nun mindern – und zwar mit Tempo 30 statt 50. Bis 2030 weitgehend in der ganzen Stadt. Andere Schweizer Städte wie Winterthur, Lausanne und Freiburg wollen nachziehen. Doch: Was richtet Lärm in unserem Körper überhaupt an? Und ist Tempo 30 die einzige Lösung? Eine Übersicht.
- In der Schweiz sind 14 Prozent der Bevölkerung von Verkehrslärm betroffen. Besonders in den Städten ist das ein Problem.
- Strassenlärm senkt unsere Lebensqualität und reduziert gesunde Lebensjahre.
- Im Jahre 2000 gingen hierzulande etwa 47 200 gesunde Lebensjahre wegen Verkehrslärm verloren.
Was ist Lärm?
Lärm ist als unerwünschter Schall definiert – und wird von Mensch zu Mensch verschieden wahrgenommen. Denn was für einige störend ist, kann für andere angenehm oder sogar wichtig sein: Zum Beispiel, wenn das eigene Kind weint oder der Motor des Sportwagens aufheult. Doch nicht nur die Art des Geräusches und die persönliche Einstellung dazu beeinflusst die Lärmwahrnehmung, auch der Gesundheitszustand und das Alter. Denn ist man krank oder auch in hohem Alter, reagiert man empfindlicher auf Lärm.
Objektiv gemessen wird Lärm in Dezibel, welche die Schallintensität angeben. Die Einheit A von Dezibel – kurz dB(A) – sagt aus, wie intensiv ein menschliches Ohr ein Geräusch wahrnimmt. Ein leises Flüstern in drei Meter Entfernung beträgt etwa dreissig dB(A) und eine normale Konversation vierzig dB(A). Glockenschläge eines Kirchturms in zweihundert Meter Entfernung erreichen schon circa sechzig und eine stark befahrene Autobahn in fünfzig Meter Entfernung achtzig dB(A). Ein Rockkonzert hat durchschnittlich einen Schallpegel von 110 dB(A) – über 120 kann Lärm auch körperliche Schmerzen verursachen. Hohe Schallpegel können ausserdem zu einem Hörverlust oder zu Tinnitus führen.
Welcher Lärm stört uns am meisten?
Grundsätzlich gilt: Die Lärmbelastung nimmt zu. Deshalb sind Belastungsgrenzwerte gesetzlich festgelegt. Diese Werte bestimmen, wieviel Dezibel in Erholungs-, Wohn- und Industriegebieten erlaubt sind. Die Grenzwerte liegen bei rund 60 Dezibel. Ob diese zureichend tief sind, ist umstritten. Auch werden die Grenzwerte stellenweise immer noch überschritten. Klar ist: Ständiges Gedröhne richtet langfristig gesundheitliche Schäden an.
14 Prozent der Bevölkerung hierzulande sind übermässigem Strassenlärm ausgesetzt. Städte wie Zürich sind dabei besonders betroffen, denn dort herrscht am meisten Verkehr. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation ist der Strassenlärm Hauptverursacher in puncto Lärmbelastung: 77 Prozent davon macht er aus. Beim Bahn- und Fluglärm sind es dreizehn beziehungsweise zehn Prozent. Doch neben Strassenlärm umgibt uns auch weniger aufdringlicher Lärm andauernd: Wenn der Drucker rattert, die Mikrowelle brummt, oder der Computer rauscht.
Was der Lärm in unserem Körper anrichtet
An Strassenlärm können wir uns gemäss einer Studie aus Malaysia mit der Zeit gewöhnen. Doch dies gelingt nur mental, denn die physiologische Reaktion bleibt dieselbe: Wir schütten Stresshormone wie Cortisol und Adrenalin aus. Zudem steigt der Blutdruck, die Herzfrequenz erhöht sich und wir atmen schneller. Chronischer lärmbedingter Stress hat gesundheitliche Effekte wie die Beeinträchtigung des Immunsystems, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und eine Erhöhung des Blutzuckerspiegels, was folglich zu Diabetes führen kann. Zudem beeinflusst Lärm den gesunden Schlaf. Gemäss den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation haben all diese Effekte weiteren Folgen, wie zum Beispiel eine verringerte Produktivität und verminderte Lernleistung. Ausserdem ist sozialer Rückzug eine weitere Konsequenz von chronischem Stress und Krankheit.
Darüber hinaus hat die Weltgesundheitsorganisation eine Methodik entwickelt, um zu berechnen, wie viel gesunde Lebensjahre wir aufgrund von lärmbedingten Gesundheitseffekten verlieren, also früher sterben oder krank leben müssen: In Europa sind es jährlich etwa eine Million so verloren gegangene gesunde Lebensjahre. Schätzungen für die Schweiz für das Jahr 2000 ergeben etwa 47'200 solcher Lebensjahre.
Wie kann man schädlichen Verkehrslärm mindern?
2018 fand in der Stadt Lausanne an zwei Strassen ein Pilotversuch statt, um den Effekt von Tempo 30 auf die Lärmreduktion zu testen. Die zwei Strassen wurden über rund vier Wochen über Nacht zur 30er-Strecke. Das Resultat: Der Lärm nahm in der ersten Strasse um durchschnittlich 2,5 dB(A) ab und in der zweiten Strasse um rund 3 dB(A). Die Lärmspitzen, die die Menschen aufwecken, nahmen sogar um 5 dB(A) beziehungsweise um 4 dB(A) ab. Forschende haben auf Basis dieser Messungen für die Stadt Lausanne das Szenario von Tempo 30 mittels einer Studie modelliert. In der jetzigen Situation werden Wohnungen in Lausanne, welche im Umkreis von maximal 25 Meter die nächstgelegene Strasse haben, im Schnitt mit 55 Dezibel beschallt. Wäre die ganze Stadt eine 30er-Zone, wären es noch durchschnittlich 53 Dezibel. Der Fokus der Studie lag unter anderem auf dem gesundheitlichen Nutzen in Hinsicht auf Schlafstörungen, kardiovaskulären Erkrankungen und Diabetes-Fällen. Die Effekte waren eindeutig: Im Vergleich zur momentanen Situation würden schätzungsweise dreitausend Bewohnerinnen und Bewohner von Lausanne stressfreier und gesünder leben, wenn in der ganzen Stadt Tempo 30 gelten würde.
In Städten liegt der Fokus in puncto Lärmbelastung vor allem auf der Geschwindigkeitsreduktion, das heisst: Wenn in 50er-Zonen nur dreissig Kilometer pro Stunde gefahren wird, nimmt der Pegel im Schnitt drei Dezibel ab. Obwohl dies zahlenmässig nach wenig tönt, entspricht dies aber in der Lärmwahrnehmung einer Halbierung des Verkehrs.
Denn: Der durchschnittliche Lärmpegel einer Strasse liegt zwischen 55 bis 60 Dezibel. Doch nimmt der Lärm in diesem Bereich um nur wenige Dezibel ab, ist der Schallunterschied deutlich wahrnehmbar. Denn je höher der Dezibelbereich liegt, desto mehr macht jedes einzelne Dezibel aus. Ausserdem ist der Verkehrsfluss in 30er-Zonen gleichmässiger, denn Autos fahren weniger Stop-and-go, wodurch Lärmspitzen beim Anfahren und Bremsen vermindert werden. Kritische Stimmen von Automobilverbänden sagen dennoch, dass eine Lärmentlastung mit Tempo 30 nur ein Deckmantel zur Verbannung von Autos aus der Stadt sei.
Weitere Massnahmen um den Lärm zu senken sind lärmarme Strassenbeläge, welche den Schallpegel um bis zu neun Dezibel senken. Auch Elektromotoren und leise Reifen können helfen.