Was kann Basel vom Appenzell lernen?
In den beiden Basel schauen wir neidisch auf den Kanton Appenzell Innerrhoden: Die Appenzeller*innen haben die tiefsten Kassen-Prämien im Land, und nicht alles ist mit der ländlichen Idylle zu erklären.
Die Innerrhoder*innen haben es schön. Sie haben zwar keinen Rhein, dafür zahlen sie die tiefsten Prämien der Schweiz. In Basel-Stadt sind diese zwar wenig gestiegen, unter dem Strich zahlen wir aber immer noch am zweitmeisten und Baselland ist national an fünfter Stelle.
Wie machen sie das, die Appenzeller*innen?
Anruf bei Karin Inauen-Mäder. Sie präsidiert die Gesundheitskommission des Grossen Rates Appenzell Innerrhoden (und den Kaninchen- und Geflügelzüchterverein, aber das spielt hier keine Rolle).
Was können wir in beiden Basel von den Appenzeller*innen lernen? Inauen zögert nicht lange mit ihrer Antwort: «Wir Innerrhoder gehen einfach selten zum Arzt. Da wird häufig mit Hausmitteln gearbeitet.» Das sei natürlich keine wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnis, sondern ihr «Bauchgefühl».
Karin Inauen-Mäder, Grossrätin Appenzell Innerrhoden
(Foto: www.ai.ch)
Das Bauchgefühl kommt aus berufenem Mund. Inauen arbeitet in der Mütter- und Väterberatung sowie in der Spitex und kennt sich daher aus. «Wenn ein Kind erkältet ist, rufen die meisten Eltern zuerst bei uns an.» Sie empfiehlt dann Hausmittel wie aufgeschnittene Zwiebeln, Luftbefeuchter und solche Dinge.
Auch Erwachsene würden sich zuerst selbst helfen. Innerrhoder*innen würden auch häufig auf eigene Kosten Naturheilmittel in Drogerien kaufen, die gar nicht auf die Krankenkasse schlagen.
Mit diesem Eindruck rennt Inauen bei Thomas de Courten offene Türen ein. Er ist SVP-Nationalrat, Mitglied der Gesundheitskommission und Präsident von Intergenerika. Er lacht ins Telefon: «Die Appenzeller haben frische Luft, guten Käse und viel Bewegung.»
Dann wird er ernst: «Es ist schon eine Mentalitätsfrage.» Appenzeller würden ihrer Gesundheit besser Sorge tragen und weniger schnell medizinische Leistungen in Anspruch nehmen. «Es wäre erstrebenswert, wenn wir diesen Habitus übernehmen in der Region.»
Ist es so einfach? Rennen wir in der Region Basel einfach zu schnell zum Arzt und büssen es mit hohen Prämien?
Konsultieren wir die, die es wissen müssen: die Basler*innen und Baselbieter*innen aus der bunt gemischten Basler Gärngschee-Community. «Ihr Lieben, gehen wir zu häufig zum Arzt mit unseren Kids?»
Nach einer Stunde haben 60 Mitglieder geantwortet. Die Community reagiert freundlich ablehnend bis euphorisch zustimmend auf die Unterstellung: «Au Basler seggle nit grad zum Arzt», stellt Mutter Nathalie klar. Zwiebelwickel oder selbst gebrauchte Hustensäfte sind auch hier hoch im Kurs.
Mutter Leonie ging einmal sogar ein wenig zu spät zum Arzt: Ihr Sohn fiel letztes Jahr von einer Mauer. «Ich sagte, wir kühlen, cremen und verbinden es. Nach 1,5 Tagen tat es immer noch weh. Der Gang zum Arzt war also nicht umgänglich. Diagnose: gebrochenes Handgelenk», schreibt sie.
Userin Sandra sieht das anders. Sie betont «aus eigener Erfahrung»: Lieber einmal zu viel zum Arzt als es nachher bereuen. So haben wir sehr früh eine Diabetes Typ 1 Erkrankung bemerkt.»
Thomas de Courten, Nationalrat Baselland
(Foto: Parlamentsdienste CH/Alessandro della Valle)
Auch die Basler Nationalrätin Sarah Wyss gibt zu bedenken: Bei ernsthaften Krankheiten kann es gefährlich sein, zu spät zur Ärztin oder zum Arzt zu gehen. Und teuer.
Sowieso findet sie als Sozialdemokratin den Appenzeller Appell an die Eigenverantwortung falsch: «Man sollte die Verantwortung nicht auf die Einzelperson abwälzen», sagt sie. Man müsse zuerst die Gesundheitskompetenz stärken und den Zugang zu niederschwellige Angeboten ermöglichen.
Appenzell Inerrhoden hat kein Spital
Wyss ist beruflich Co-Leiterin der Direktorin Medizin und Pflege bei den Universitären psychiatrischen Diensten Bern. Sie glaubt, dass es noch ganz andere Gründe dafür gibt, dass die Prämien in Appenzell Innerrhoden viel tiefer sind als hier. Erstens die Bevölkerungszusammensetzung: Je älter die Bevölkerung, desto pflegebedürftiger. Und: In Städten leben auch mehr Armutsbetroffene. Die Forschung zeigt: Armutsbetroffene haben tendenziell einen schlechteren Gesundheitszustand.
Ausserdem gibt es in Appenzell Innerrhoden kein Spital, nur ein Gesundheitszentrum. Für grössere Operationen müssen Innerrhoder*innen in das Spital Herisau oder das Spital St.Gallen. In der Region Basel haben wir in gewissen Fachrichtungen bekanntlich eine Überversorgung. Sarah Wyss sagt: «Es ist erwiesen: Je mehr Angebote es gibt, desto mehr werden sie auch in Anspruch genommen». So ist beispielsweise schon lange bekannt, dass Basel-Stadt ein hohes Angebot an Orthopädie hat. Resultat: «In Basel gibt es viel mehr Kniegelenksspiegelungen als in anderen Kantonen.»
Sarah Wyss, Nationalrätin Basel-Stadt
(Foto: Keystone/Alessandro della Valle)
Beste Medizin: Hausärzt*innen
Den Baselbieter SVP-Nationalrat Thomas de Courten beeindruckt das wenig. Der Gesundheitspolitiker setzt wieder bei der Eigenverantwortung an. Es brauche bei den Prämien auch Modelle, die es attraktiver machen, weniger zum Arzt zu gehen. Wyss hätte lieber höhere Prämienverbilligungen schweizweit sowie «kostendämpfende Massnahmen ohne Leistungsabbau – wie eine Einheitskasse».
In einem sind sich die Sozialdemokratin und der SVPler aber einig: Die Hausarztmedizin muss gestärkt werden. Diese ist günstiger als Spezialist*innen mit hohen Löhnen. Laut de Courten müssten auch die Patient*innenströme gelenkt werden, Wyss möchte auch die Grundversorgung stärken.
Erste Schritte dafür sind in beiden Basel mit der gemeinsamen Spitalliste 2021 in Angriff genommen worden. Sie können die Leistungen eindämmen, da sie bestimmen, welche Spitäler welche Leistungen via Grundversicherung abrechnen dürfen.
Wirtschaftsfreiheit versus Kostenreduktion?
Das klingt einfach, ist es aber nicht: Immer wieder melden sich erboste Privatspitäler, die sich gegenüber den öffentlichen Spitälern benachteiligt fühlen. Und das in mindestens einem Fall offenbar mit Recht: Die Baselbieter Ergolz-Privatklinik gewann vor Bundesverwaltungsgericht, die Kantone müssen die Spitalliste anpassen.
Wyss schlussfolgert: «Die Wirtschaftsfreiheit in der Bundesverfassung und die bedarfsgerechte Planung gemäss Krankenversicherungsgesetz scheinen sich in Bezug auf die Gesundheit zu widersprechen.»
Und so zahlen wir weiterhin höhere Prämien als die Innerrhoder*innen. Zwiebelwickel hin oder her. Die machen wir nämlich beide. Und regen uns zwischendurch über Eltern auf, die wegen jedem «Gugus» ins Spital rennen, wie es Diana von Gärngschee ausdrückt.
Laut UKBB sind 70 bis 80 Prozent der Fälle der Patient*innen auf dem Notfall eigentlich keine dringenden Fälle, wie die BaZ im November berichtete. Wobei die Erwachsenen den höheren Anteil am Kostenkuchen ausmachen.
Doch wie so häufig gilt auch hier: Diejenigen, die ihre Eigenverantwortung nicht richtig wahrnehmen, sind immer die anderen.