Wie ein Basler die Tellskapelle prägte
Die Tellskapelle ist ein Stück Schweizer Zeitgeschichte: das Innere schmücken vier Fresken – sie zeigen unter anderem die berühmte Sage vom Apfelschuss und den Rütlischwur. Gemalt hat alle der Basler Künstler Ernst Stückelberg. Wie kam es dazu? Ein Aperçu zum Nationalfeiertag.
Wenn man in diesen Sommertagen auf einem Raddampfer der Vierwaldstätter-Flotte der Tellskapelle begegnet, dann trifft man auf ein Kunstdenkmal, das mit kräftiger Unterstützung von einem Basler Künstler geschaffen wurde. Der Künstler war Ernst Stückelberg, sein wichtigster Supporter war der Basler Rats- und Handelsherr Johann Jakob Im Hof(-Forcart)-Rüsch (1815-1900). Dieser war in den Jahren 1864-1890, also während 26 Jahren Präsident des Basler Kunstvereins und Erfinder der Basler Rheinfähren zur Finanzierung des Kunsthallebaus. Zudem präsidierte er in den Jahren 1873-1874 auch den Schweizerischen Kunstverein, der damals von der Urner Regierung gebeten wurde, sich der Erneuerung der alten Tellskapelle anzunehmen.
1876 wurde ein nationaler Wettbewerb für die Gestaltung von vier Fresken für diese Kapelle ausgeschrieben. 16 Vorschläge gingen daraufhin ein. Im Hof als Jurypräsident sorgte dafür, dass der von ihm sehr geschätzte Stückelberg den Zuschlag erhielt. Die von ihm vorgelegten Entwürfe gefielen zwar nicht, es wurde aber festgehalten, dass Stückelberg mit seinem Können der Einzige sei, der für die Ausführung infrage komme. Jurypräsident Im Hof erklärte darauf in Basel öffentlich: «Uns Basler darf dieser Beschluss umso mehr freuen, als unserem Mitbürger die ehrenvolle Auszeichnung zu Theil wurde… .»
Georg Kreis ist Historiker und emeritierter Professor für Neuere Allgemeine Geschichte und Geschichte der Schweiz an der Universität Basel. Bis Mitte 2011 leitete er das Europainstitut Basel und bis Ende 2011 präsidierte er die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR).
So konnte sich der Basler Maler 1877 an die Arbeit machen. Stückelberg, der, abgesehen vom noch heute zu besichtigen Fresko im Treppenhaus der Basler Kunsthalle, bisher vor allem Kleinkunst produziert hat, freute sich: «Da hab ich endlich einmal Gelegenheit, mich in monumentaler Malerei auszubilden.»
Wie manche Künstler seiner Zeit, sah Stückelberg, wie die Kunsthistorikerin Sandra Fiechter in ihrer jüngsten Publikation darlegt, in der grossflächigen Wandmalerei den Gipfel der öffentlichen Anerkennung.
Stückelberg hätte sich auch als Grossbildhauer betätigt und das um 1860 ausgeschriebene St. Jakobsdenkmal gestaltet. Zum Glück für Basel wurde aber nicht sein Entwurf, sondern derjenige von Ferdinand Schlöth (vollendet 1872) ausgewählt.
Der Basler erlangt nationales Ansehen
Ernst Stückelberg erlangte als Maler der Tellskapelle eine weitere Steigerung seiner Popularität. Es war die Berühmtheit der Kapelle, die Stückelbergs in Kreisen der Kunstliebhaber*innen bereits bestehendes Ansehen ins Nationale erweiterte. Stückelberg stammt aus einer Familie der Basler Oberschicht. Er ist reformiert, was ihn aber nicht hinderte, sein malerisches Können der Verherrlichung einer Kultgeschichte der katholischen Innerschweiz zur Verfügung zu stellen. Historismus machte aus dem Patriotismus, der schon immer in ihm steckte, nämlich eine überkonfessionelle Zivilreligion.
Vom Juli bis Oktober 1878 arbeitete Stückelberg zunächst in Tells angeblichem Geburtsort Bürglen. Dort suchte er sich beim sonntäglichen Kirchgang gegen Sitzgeld porträtierbare Menschen mit «echten» Berglergesichtern aus. Gottfried Keller, der angesehene Nationalschriftsteller, besuchte Stückelberg im Frühjahr 1882 bei seiner Arbeit und sprach sich anschliessend in der Presse speziell lobend über die porträtierten Gesichter aus, die der Basler Maler unter den «Nachkommen der ersten Eidgenossen» gesammelt hat.
Stückelbergs Darstellung des Rütlischwurs ist konventionell, sie musste dies sein. Auf dem ersten Entwurf der Wettbewerbseingabe zeigte Stückelberg zwei der drei Eidgenossen niederkniend vor einem Schwörstein. Das stiess bei der Urner Regierung auf entschiedene Ablehnung. Sie nahm dem Künstler das Gelübde ab, zur traditionellen Darstellung zurückzukehren, und drohte damit, andernfalls den Neubau der Kapelle zu verhindern. Die sich an traditionellen Vorstellungen orientierende Haltung wurde auch in der Presse kundgetan: Der im Volksglauben festgelegte Stoff sehe drei freie gleichberechtigte Männer vor.
Bei der näheren Betrachtung der Darstellung des Rütlischwurs können wir teilweise der Beschreibung des Kunsthistorikers Franz Zelger folgen: Stückelberg stellt die Szene im Lichte der Morgendämmerung in eine Regenbogenlandschaft. Im Hintergrund die beiden Mythen. Das verglimmende Feuer im Vordergrund verweist darauf, dass man über Nacht beraten hatte.
Die drei Eidgenossen repräsentieren in üblicherweise drei Generationen (der alte Walter Fürst, Werner Stauffacher in der Mitte und Arnold von Melchtal als der Jüngste). Heute fällt auf, dass Frauen fehlen. Am rechten Rand hat sich Stückelberg mit gezogenem Schwert selbst dargestellt. Hinter ihm steht als weissbärtiger Greis Regierungsrat Johann Caspar Zollinger, Präsident des Schweizerischen Kunstvereins.
Der Besucherstrom nach der neuen Tellskapelle setzte bereits während der Malerarbeiten ein. Ein Gästebüchlein verzeichnete die illustren Gäste, u .a. Bundespräsidenten, Malerkollegen, Schriftsteller (z. B. eben Gottfried Keller), Diplomaten, Universitätsprofessoren, Gotthardbahnbeamte etc.
Im Juni 1883 erfuhr die Kapelle eine Bestätigung ihres Status als Nationalheiligtum. An der pompösen Einweihungsfeier auf dem Rütli nahm die beinahe vollständig versammelte eidgenössische Prominenz teil. Etwa gleichzeitig durfte der Maler die Ernennung zum Ehrendoktor der Universität Zürich entgegennehmen. In Basel wurde ihm zu Ehren in der Kunsthalle ein Bankett veranstaltet und ihm vom alt-Regierungsrat, Zunftmeister und Kunstmäzen Johann Jakob Im Hof ein Lorbeerkranz überreicht.
Bereits während des ganzen 19. Jahrhunderts war die alte und dann die neue Kapelle ein Wallfahrtsort. Wer ein rechter Patriot sein wollte, sollte mindestens einmal in seinem Leben eine Pilgerreise zur Tellskapelle unternommen haben. Später konnte man von den extra gecharteten privaten Schiffsfahrten absehen und wurde am Ort, wo der Legende nach Tell den Sprung in die Freiheit gewagt hat, eine reguläre Dampfschiffstation eingerichtet.
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Stückelbergs wiederentdeckte Basler Wandbilder sind in einer aktuellen Ausstellung bis zum 10. März 2024 im Museum Kleines Klingental zu besichtigten. Dazu ist erschienen von Sandra Fiechter, Zur Salon-Wandmalerei von Ernst Stückelberg im abgegangenen Basler Erimanshof. In: Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, Bd. 80, 2023, H. 1+2, S. 33-76.
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