«Wir müssen wöchentlich Familien abweisen»
Die Baselbieter Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektion gab an, es gäbe genügend Kinderärzt*innen in der Region Basel. Dem widerspricht der Binninger Kinderarzt und Präsident des Verbands Kinderärzte Schweiz, Marc Sidler.
Vor einigen Wochen wurde bekanntgegeben, dass der Bereich für Kinder- und Jugendmedizin in der Klinik Arlesheim schliessen wird. Viele Familien in der Region verlieren dadurch ihre ärztliche Betreuung (Bajour berichtete). Entwarnung gab die Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektion (VGD) in Baselland. Sie teilte mit, das Angebot an ambulant tätigen Kinder- und Jugendmediziner*innen sei nach Berechnungen des Bundesamts für Gesundheit in der Region Basel überdurchschnittlich. Diesen Aussagen widerspricht Marc Sidler, Kinderarzt in Binningen und Präsident von Kinderärzte Schweiz, dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt*innen in der Praxis. Wir haben ihn zum Thema befragt.
Die Meldungen über volle Kinderarztpraxen und die Überlastung des Kindernotfalls des Kinderspitals (UKKBB) häufen sich. Die Volkswirtschafts- und Gesundheitsdirektion (VGD) in Baselland glaubt aber nicht, dass es eine Lösung braucht, sondern die Versorgung stimmt. Sie bezieht sich dabei auf den Obsan Bericht von 2022. Wie sehen Sie das?
Ich kenne den Bericht, weiss aber nicht genau, aufgrund welcher Daten dieser Schluss gezogen wurde. Ich kann aber berichten, wie es in der realen Welt aussieht. Ich beobachte die Entwicklung der Kinderarztpraxen in der Region seit 20 Jahren und kann sagen, dass in diesen Jahren kaum welche hinzugekommen sind. Einige meiner Kolleg*innen werden in den kommenden Jahren pensioniert. Die meisten Praxen konnten in solchen Situationen bisher übernommen werden, aber es ist nicht klar, wie lange das noch so funktioniert. Viele Kinderärzt*innen arbeiten nicht mehr 100 Prozent. Deshalb müssen bei einer Übernahme mehrere Kolleg*innen zur Weiterführung einer bisherigen Praxis gefunden werden.
Die Kindernotfallstation läuft auf Hochtouren, die Klinik Arlesheim schliesst den Bereich für Kinder- und Jugendmedizin, doch die Gesundheitsdirektion Baselland gibt Entwarnung.
Wie sieht es bei Ihrer Praxis in Binningen aus? Können Sie alle Familien aufnehmen, die sich bei Ihnen melden?
Nein. Wir haben wöchentlich Anfragen von Familien, die wir nicht annehmen können. Wir bemühen uns vor allem, für die Familien von Neugeborenen da zu sein. Ich halte es für einen wichtigen Auftrag, dafür zu sorgen, dass zumindest die jungen Familien gut betreut werden. Wir erhalten aber viele Anfragen von Zugezogenen mit älteren Kindern, die wir nicht aufnehmen können.
Ist das ein regionales Phänomen?
Leider nicht. Meine Kolleginnen und Kollegen aus der Region Zürich und Bern berichten dasselbe. In ländlichen Regionen ist der Bedarf immer noch ein bisschen höher, in unserer Region beispielsweise im Oberbaselbiet. Aber auch in der Agglomeration und selbst in Basel-Stadt wird es immer schwieriger, den Bedarf zu decken. Bei der Schliessung des Bereichs für Kinder- und Jugendmedizin in der Klinik Arlesheim ist mir zum Beispiel auch nicht bekannt, dass es eine Lösung für die Familien gäbe.
«Die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Freizeit wird auch den Männern zunehmend wichtiger.»Marc Sidler, Kinderarzt
In der Pädiatrie arbeiten viele Frauen, ist das der Grund für den verbreiteten Wunsch nach Teilzeitarbeit?
Das würde ich so nicht sagen. Das betrifft nicht nur Frauen. Wenn ich zum Beispiel mit jungen Kollegen im Spital spreche, sagen viele von ihnen, dass sie nicht mehr 100 Prozent – in der Realität ist es meistens noch mehr – arbeiten möchten. Die Vereinbarkeit von Arbeit, Familie und Freizeit wird hier auch den Männern zunehmend wichtiger.
Die Versorgung in der Pädiatrie ist auch deshalb nicht vollständig gewährleistet, weil sich verhältnismässig wenige angehende Ärzt*innen für diesen Fachbereich entscheiden. Weshalb ist der Beruf des Kinderarztes, der Kinderärztin, nicht so beliebt?
Ich habe nicht den Eindruck, dass die Kinder- und Jugendmedizin im Medizinstudium nicht beliebt wäre. Es ist aber sicher so, dass auf die Studierenden Fächer, die auf den ersten Blick mehr «handwerkliche» Fertigkeiten erfordern oder bei denen komplexe apparative Untersuchungen durchgeführt werden, wie etwa in den chirurgischen Disziplinen, der Kardiologie oder Gastroenterologie primär eine stärkere Anziehungskraft haben als die Allgemeine Innere Medizin oder die Kinder- und Jugendmedizin.
Wo kann man ansetzen?
Für die Studierenden ist es möglicherweise nicht so einfach vorstellbar, was die Tätigkeit in der Grundversorgung oder der Kinder- und Jugendmedizin alles umfasst. Unsere tägliche Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien beinhaltet eine ganzheitliche Betreuung und langjährige Begleitung in verschiedenen Lebensphasen, was sehr vielseitig und sinnstiftend ist. Es zeigt sich jedoch allmählich, dass die verschiedenen Interventionen beziehungsweise Angebote im Studium das Interesse an der Grundversorgung zunehmend wecken. Ob damit schlussendlich auch mehr Hausärzt*innen und Kinderärzt*innen Fachärzt*innenausbildung nach dem Studium abschliessen, kann man jetzt noch nicht sagen.
«In der Grundversorgung können über 90 Prozent der gesundheitlichen Probleme gelöst werden.»Marc Sidler, Kinderarzt
Was waren das für Interventionen?
Die Grundversorgung wird im Medizinstudium vermehrt und früher thematisiert. Die Studierenden gehen zum Beispiel schon sehr früh in Haus- und Kinderarztpraxen, um dort praktische Erfahrungen zu sammeln. Ich erachte es als sehr wichtig, dass die angehenden Ärzt*innen den Alltag in den Praxen schon früh mitbekommen. So etwas lässt sich im Hörsaal nicht vermitteln. Ausserdem wurde das Institut für Hausarztmedizin der Universität Basel in den letzten Jahren aktiver im Medizinstudium eingebunden.
Halten Sie ein spezifisches Studium für Kinderärzt*innen, also eine Spezialisierung von Anfang an, für sinnvoll?
Diese Frage kann ich entschieden mit «Nein» beantworten. Dahinter stelle ich allerdings ein grosses «Aber». Grundsätzlich finde ich es ungemein wichtig, dass alle Ärzt*innen ein breites Grundstudium absolvieren. Den Studierenden muss aber vermittelt werden, dass die Haus- und Kinderarztmedizin in der Praxis einen entscheidenden Beitrag für unser Gesundheitswesen leistet. In der Grundversorgung können über 90 Prozent der gesundheitlichen Probleme gelöst werden – und dies deutlich kostengünstiger als bei Spezialist*innen.
Weshalb ist aber die Pädiatrie finanziell weniger lukrativ als andere Fachbereiche?
Das hat sicher damit zu tun, dass wir mit einem über 20-jährigen Tarifsystem abrechnen, welches u. a. technische Untersuchungen und Operationen besser vergütet als das ärztliche Gespräch und die klinische Untersuchung. Gespräche und klinische Untersuchungen sind das Hauptwerkzeug unserer Arbeit als Kinderärzt*innen. Die Ärzteschaft und Tarifpartner haben sich daher schon lange dafür eingesetzt, dass das bisherige Tarifsystem (TARMED) endlich durch einen neuen sachgerechten und wirtschaftlich korrekten Tarif (TARDOC) abgelöst wird. Diese Rahmenbedingungen müssen wir für die kommende, junge Generation schaffen, damit die ärztliche Arbeit korrekt abgebildet wird und attraktiv bleibt.
«Der Druck, dass das Kind schnell wieder gesund wird und die Eltern wieder arbeiten gehen können, ist sehr hoch.»Marc Sidler, Kinderarzt
Weshalb werden die Praxen und Notfallstationen denn in den letzten Jahren so viel stärker gefordert?
Eine zunehmende Inanspruchnahme der Notfallstation des UKBB hat sich teilweise bereits mit dem Umzug von der Römergasse an die Spitalstrasse vor über zehn Jahren gezeigt. Man hatte damals die Konsultationen der Notfallstationen auf dem Bruderholz und in der Römergasse zusammengezählt, um zu errechnen, mit wie vielen Patient*innen an der Spitalstrasse zu rechnen sein wird. Bald stellte sich heraus, dass die Notfallstation am neuen Standort mehr Zulauf hatte. Liegt es daran, dass der neue Standort einfacher zu erreichen ist, oder an den gesellschaftlichen Entwicklungen? Darauf haben wir bis jetzt keine Antwort.
Nun ist die Notfallstation des UKBB aber schon einige Jahre am selben Standort und die Situation spitzt sich weiter zu.
Genau. Hierzu gibt es sicher verschiedene Gründe. Verständlicherweise kann ein krankes Kind die Eltern verunsichern, man möchte nichts verpassen, allenfalls hat man im Internet die Symptome gegoogelt und ist auf eine schwere Krankheit gestossen. Dies verunsichert zusätzlich. Man möchte als Eltern rasch einen ärztlichen Rat, möglicherweise erhält man bei der eigenen Kinderärztin nicht sofort einen Termin und erhofft sich schliesslich eine schnellere Lösung des Problems auf der Notfallstation des Kinderspitals. Ein krankes Kind kann für eine Familie sehr belastend sein, vor allem wenn beide Elternteile arbeiten und auf die Betreuung in einer Kita angewiesen sind. Der Druck, dass das Kind schnell wieder gesund wird und die Eltern wieder arbeiten gehen können, ist sehr hoch.
Haben Sie den Eindruck, dass Eltern unsicherer geworden sind im Umgang mit Krankheiten bei ihren eigenen Kindern?
Das kann ich nicht abschliessend beantworten. Mein Eindruck ist, dass heutzutage Familien weniger auf ein soziales Netzwerk, wie etwa den Rat und die Erfahrung von Verwandten zurückgreifen können. Manchmal braucht man eine vertraute Person, die einem sagt: «Mach dir keine Sorgen. Das ist nicht schlimm, das kenne ich auch.»
Wie hilfreich sind Angebote der Telemedizin wie die medizinische Notrufzentrale?
Telemedizin kann bei kompetenter und guter Beratung sicher einige Probleme lösen. Auch in unserer Praxis beraten wir oft «telemedizinisch», zum Beispiel bei Erkältungen, Magen-Darm-Beschwerden oder bei Hautveränderungen, manchmal mithilfe von Fotos. In der kinderärztlichen Praxis haben wir den grossen Vorteil, dass wir die Kinder, ihre Krankengeschichte und ihre Familie über lange Zeit kennen, was eine telefonische Beratung einfacher macht. Dies kann eine telemedizinische Hotline nicht leisten, weshalb vor allem kleine Kinder, in meiner Erfahrung, dann doch weiterverwiesen werden müssen.
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