Wirren der Demokratie
Die Altersvorsorge ist eine der grössten Sorgen der Schweizer*innen. Dass wir nun über zwei AHV-Initiativen abstimmen, die äusserst unterschiedliche Forderungen beinhalten, findet Kolumnistin Eva Biland «beinahe grotesk». Sie erwartet einen «parteiübergreifenden Seegang».
Gegensätzlicher könnten die Forderungen der beiden aktuellen AHV-Initiativen nicht sein, beinahe grotesk präsentiert sich die Ausgangslage: Möchten Sie künftig lieber eine 13. AHV-Rente und/oder länger arbeiten?
Was für eine Frage. Man könnte auch einen durstenden Marathonläufer in der Wüste fragen: «Wollen Sie lieber ein Glas Wasser oder weiterrennen bis zur nächsten Oase?» Oder man könnte ein beschenktes Kind fragen: «Möchtest Du dieses Päckli lieber gleich auspacken oder damit noch warten bis zum nächsten Geburtstag?»
«Gegensätzlicher könnten die Forderungen der beiden aktuellen AHV-Initiativen nicht sein.»
Am 3. März hat die Stimmbevölkerung die Möglichkeit, über die Initiativen rund um das wichtigste Schweizer Sozialwerk – die AHV – abzustimmen. Über die Initiative für eine 13. AHV-Rente und über die Renteninitiative, welche das Rentenalter erhöht und damit eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge erreichen will.
Freilich erhält das Begehren auf eine 13. AHV-Rente, auf ein Glas Wasser in der Wüste oder auf ein unvermitteltes Geschenk unverzüglich eine andere Bedeutung, wenn das Geld zur Rentenauszahlung schlicht fehlt, das Glas Wasser in der Wüste vorzeitig verdunstet ist, oder das Geschenk nur eine leere Kartonschachtel verspricht.
Eva Biland politisiert für die FDP Basel-Stadt und arbeitet als Hausärztin. In ihrer Kolumne «Bilan(d)z» schaut sie aus bürgerlicher Sicht auf den Kanton und seine Menschen.
Die Altersvorsorge steht vor dem finanziellen Ruin und stellt eine der grössten Sorgen der Schweizer Bevölkerung dar. Die Finanzierung und die langfristige Sicherung sind aufgrund der älter werdenden Bevölkerung in Gefahr, das Umlageergebnis dürfte gemäss geltender Ordnung bereits 2029 negativ ausfallen. Konkret bedeutet das, dass die Einnahmen nicht mehr ausreichen, um die laufenden Renten zu finanzieren.
Bis 2045 wird mit einem jährlichen Minus von 16 Milliarden Franken gerechnet. Fast alle westeuropäischen Länder haben deshalb ihr Rentenalter der steigenden Lebenserwartung angepasst, das Renteneintrittsalter wird sich laut OECD bis 2060 im Durchschnitt um etwa zwei Jahre steigern.
Die Initiative der Jungfreisinnigen möchte gemäss ihrer moderaten Vorlage mit einer Erhöhung des Rentenalters um zwei Monate pro Jahr ein Rentenalter von 66 Jahren bis 2032 erreichen, um die Renten zu sichern. Die sozialpolitische Komponente soll dabei weiterhin berücksichtigt werden: Es bleibt branchenabhängig möglich, vorzeitig in den Ruhezustand zu gehen, respektive liegt es wie heute an den Sozialpartnern (Arbeitgeber und Gewerkschaften) Lösungen zu finden, die den Schwierigkeiten des Berufsstandes entsprechen. Menschen in physisch anspruchsvollen Berufen wird also insofern Rechnung getragen, dass sie auch fortan früher in Rente gehen können.
«Das Arbeiten sorgt auch im letzten Lebensviertel für eine hohe Wertschätzung und Selbstbestimmung.»
Dennoch gibt es diverse populäre Argumente gegen die Renteninitiative. Die Argumente resultieren überwiegend aus sozialpolitischen oder leistungskritischen Überlegungen. Es gibt hingegen eine ganz andere Argumentation, welche eine längere Berufstätigkeit unbedingt diskutierbar machen: das Arbeiten sorgt auch im letzten Lebensviertel für eine hohe Wertschätzung und Selbstbestimmung. Bis zu einem Drittel der Schweizer Bevölkerung bleibt bereits heute über das ordentliche Rentenalter erwerbstätig und zwar mehrheitlich aus intrinsischem Willen und ohne finanzielle Not.
Die Bevölkerung wird immer älter, über ein Viertel des Lebens wird im Ruhestand verbracht – Tendenz steigend. Das sogenannte «aktive Altern» hat an Bedeutung gewonnen. Aussagen von freiwilligen Nichtrentnern wie «Ich fühle mich der Gesellschaft durch meine Arbeit mehr zugehörig» oder «Die Arbeit hält mich flexibel und lenkt mich ab von meinen körperlichen Veränderungen» höre ich immer wieder in meinen Sprechstunden.
«Flexible Arbeitsmärkte schaffen Spielräume, um auf vielfältige Art mit der älter werdenden Gesellschaft umzugehen.»
Die Angst, nicht mehr gebraucht zu werden, wird nach meiner Erfahrung häufiger bekundet als noch vor 15 Jahren. Lineare Lebens- und Karrierevorstellungen geraten immer stärker mit neuen Formen der Lebenswirklichkeit in Konflikt. Staatliche Förderungen sollten sich deshalb darauf konzentrieren, Regulierungen abzuschaffen, die eine Weiterarbeit im Alter erschweren oder ältere Arbeitskräfte verteuern. Flexible Arbeitsmärkte schaffen Spielräume, um auf vielfältige Art mit der älter werdenden Gesellschaft umzugehen.
Die kommenden Abstimmungen zu den sehr unterschiedlichen Rentenforderungen jedenfalls versprechen einen parteiübergreifenden Seegang. Überwiegt die Versuchung nach mehr Leistungsbezug aus einem austrocknenden AHV-Fonds oder ist die Bevölkerung bereit für eine AHV-sichernde Beitragszahlung, angepasst an das Privileg einer höheren Lebenserwartung?
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