«YOU, BROTHER!»
Alain Claude Sulzers neues Buch hat bereits vor seiner Veröffentlichung für Aufsehen gesorgt. Jetzt ist es endlich da. Unsere Kolleg*innen von Viceversa finden: Der Roman bleibt trotz kunstvoller Sprache in den gewohnten Bahnen erzählerischer Konventionen gefangen.
Alain Claude Sulzers neuer Roman erzählt die Geschichte einer lang zurückliegenden Freundschaft. Ein namenlos bleibender Ich-Erzähler blickt, in die Jahre gekommen, auf die gemeinsame Kindheit und den frühen Tod seines Freundes Frank zurück, der nur 32 Jahre alt geworden ist. Das ist zum Zeitpunkt der Erzählung auch schon wieder einige Jahrzehnte her. Fast wie ein Bruder – damit ist einerseits eine spezielle Nähe der beiden Protagonisten ausgedrückt, aber auch die immer drohenden Probleme familiärer Verstrickungen, die zu viel oder zu wenig Vertrautheit mit sich bringen können.
Das ist ein Beitrag von Viceversa, der Plattform für Schweizer Literaturen. ViceVersa publiziert wöchentlich neue Beiträge, Rezensionen, themenzentrierte Artikel, Interviews und unterhält ein Archiv mit Autor*innen der Schweiz.
Der Erzähler und sein Freund Frank wachsen in einem kleinbürgerlichen Milieu in Bochum auf, das relativ schnell skizziert wird und in der Beschreibung dann auch nur schemenhaft erkennbar bleibt; seltsam gesichtslos, als käme es eigentlich nicht darauf an, in welcher mittelgrossen Stadt die Geschichte beginnt. Schnell wird klar, dass die Jugendfreunde durch prägende Kindheitserlebnisse zwar eng zusammengeschweisst sind, aber auch zunehmend eigene Wege gehen. Denn Frank verlässt notgedrungen die Stadt, nachdem die ganze Nachbarschaft miterlebt, wie er und sein Liebhaber Matteo als Teenager aus der Mietwohnung buchstäblich ans Bochumer Flurlicht gezerrt werden. Frank wird Künstler und zieht bald ins New York der 1970er und -80er Jahre, wo er sich der aktiven Schwulenszene, Malerei und Drogen widmet. Seine künstlerische Laufbahn verläuft spektakulär erfolglos, der Kontakt zu Europa ist spärlich.
Andenken und Indiskretion
Mitte der 1980er Jahre rückt AIDS ins öffentliche Bewusstsein, erkrankt kehrt Frank in den frühen 1990ern für den Krankenhausaufenthalt nach Deutschland zurück. Nach seinem Tod erbt der Erzähler einen Container mit Franks künstlerischem Nachlass. Dieser bleibt jahrzehntelang ungesichtet im südfranzösischen Anwesen des Erzählers liegen: Ein Mausoleum von Franks Erfolglosigkeit, aber auch des völligen Desinteresses, das der Erzähler der Kunst seines Freundes lebenslang entgegengebracht hatte.
Das Anliegen des Ich-Erzählers ist durchaus, seinem Freund eine Art erzählerisches Denkmal zu setzen. Intime Porträts anderer Menschen, speziell wenn sie sich nicht mehr äussern können, haben oft einen Beigeschmack. Sie sind einseitig und möglicherweise voyeuristisch.
Ein solches Porträt liegt hier im fiktionalen Rahmen des Romans auch vor: Der Erzähler erzählt Franks Leben als Auswahl schmerzlichster und intimster Momente, von der brutalen Blossstellung seiner Homosexualität vor der gesamten Nachbarschaft, über erotische Abenteuer in New York, bis zum Dahinsiechen auf dem Sterbebett. Und die Spannung zwischen der ehrlichen Bestandsaufnahme der Gefühle und der Gefahr, den toten Freund blosszustellen, führt aus dieser beinahe unerhört konventionell abgefassten Erzählung in den zweiten Teil des Romans: Jahrzehnte nach Franks Tod verschwindet sein Nachlass spurlos aus dem Lagerhäuschen und taucht unverhofft in einer Berliner Kleingalerie wieder auf.
Die Ausstellung erregt Aufsehen: Urheberin oder Urheber der Gemälde ist völlig unbekannt, Herkunft der Kunstwerke ist nicht geklärt. Eine wunderbare Aura umgibt die Bilder, die nun auch Kaufangebote in grosser Höhe erhalten – wer ist das bislang verkannte Genie? Nun ist der Ich-Erzähler die einzige Person, die irgendetwas über den eigentlichen Künstler weiss und ihn der Welt vorstellen könnte. Bei seinem Besuch in der Galerie sieht er sich auf einem der Bilder auf pikante Weise selbst abgebildet. Das Gemälde zwingt die Betrachter:innen und die Leserschaft nolens volens in eine Grundsituation des intimen Übergriffs, bei dem sich beide Seiten ertappt fühlen: Es zeigt den Erzähler beim Masturbieren: «Unter dem Bild, ganz klein, kaum leserlich, der Titel: ‹YOU, BROTHER!›» (S. 146).
Das neue Buch von Alain Claude Sulzer beschäftigte schon lange vor seinem Erscheinen die Literatur- aber auch die Politikszene. Nun ist «Fast wie ein Bruder» auf dem Markt – und das umstrittene Z-Wort nach wie vor sehr präsent. Weil es für die Handlung des Romans keine Rolle spielt, stellt Valerie Wendenburg in ihrem Kommentar die Frage: Warum?
Im Kopf des Erzählers besteht New York zunächst aus altbekannten Versatzstücken, wie wir sie heute zur Genüge aus Taxi Driver und anderen Filmen kennen, sie sind grundlegend unoriginell – es handelt sich um tatsächlich «abgedroschene Redewendungen». Um diese nur aus Filmklischees bestehende Beschreibung dann zurechtzurücken, wird einfach auf einen anderen New Yorker Film der 1970er Jahre verwiesen, für den dann aber vom Erzähler heute noch repräsentative Gültigkeit reklamiert wird: Ja, so war New York damals also ‘wirklich’, nämlich wie in Allens durchstilisierter Manhattan-Hommage. Die Erzählweise ist gespickt mit Formulierungen wie «Die abgedroschene Redewendung war zutreffend» (21), oder dass Franks Sexleben dem eines «durchschnittlichen New Yorker Schwulen» (72) entspreche – wobei das, wie der Erzähler gleich mehrfach betont, «sprichwörtlich promiskuitiv» bedeuten soll. Wird hier eine Erzählfigur von ihrem Autor absichtlich demontiert?
Durchaus denkbar. Denn natürlich passt dieses auffällige Haftenbleiben an der Bildoberfläche zur Charakterisierung der Erzählerfigur als angesehenem Kameramann, der Dinge eben nur gut abbilden, aber nicht selbst kreieren kann. Der Erzähler und Frank: Auf der einen Seite der «Ignorant, der nur sieht, was das Objektiv hergibt» (140), auf der anderen der Maler, dem als produktiven Urquell geheimnisvolle Bilder entspringen. Das ist eine etwas vertrackte, aber durchaus reizvolle Strategie zur Etablierung eines Ich-Erzählers, der sich sozusagen selbst vor der Sonne der Erkenntnis steht. Folgt daraus auch ein literarisch interessanter Text? Denn ernüchternd ist es schon: Sei es nun Franks New Yorker Künstler- und Sexleben oder sein späterer AIDS-Tod, zentrale Elemente der Erzählung werden anhand ihrer gewöhnlichsten kulturellen Bildbestände und ihrer abgegriffensten Formulierungen dargestellt.
Sinti und Roma
Vor diesem Befund ordnet sich auch das Kapitel ein, das bereits vor der Veröffentlichung des Romans für mediale Aufregung gesorgt hatte. Dort fliegt Franks Affäre mit dem Rom Matteo auf, dessen Familie unter Getöse das Mietshaus stürmt, um die Liebschaft zu beenden. Die öffentliche Debatte über den unveröffentlichten Text drehte sich u.a. darum, ob und wie der Gebrauch des Wortes «Zigeuner» – vom Duden als diskriminierender Sprachgebrauch markiert – in gewissen literarischen Zusammenhängen ethisch vertretbar wäre. Die Befürworter:innen stellen sich auf den klassischen Standpunkt, dass in dem Milieu und der Zeit, in der die Szene spielt, nun einmal so gesprochen worden wäre, das Ganze sich also in einer treffenden Darstellung der damaligen Atmosphäre auflöse. Und natürlich wäre es ein völlig anderer literarischer Effekt, wenn wir in einem historischen Setting mit gegenwärtigen Begriffen konfrontiert würden, die der Ich-Erzähler damals noch gar nicht zur Verfügung haben konnte.
Die Ausdrücke [...] dienen hier dazu, einen aufwühlenden Schockmoment zu produzieren und spielen für den Text dann keine weitere Rolle.
Tatsächlich betont der Text auch, dass die Verwendung des kontroversen Wortes, überhaupt die ganze Beschreibung der Eklat-Szene, aus der Sicht des damaligen, kleinbürgerlichen Milieus dargestellt sowie von den gesellschaftlich geprägten Vorurteilen und Ängsten des jungen, uninformierten Ich-Erzählers unterfüttert ist. Besonders deutlich wird das etwa daran, dass sich bei Beschreibungen, die der Erzähler aus seiner späteren Perspektive nachreicht, durchaus von «Sinti und Roma» (30) die Rede ist. Dieses Verfahren bedingt aber eben auch, dass die beschriebene Gruppe ausschliesslich in den Stereotypen exotisierter Fremdheit dargestellt bleibt: «Es hieß, dass Zigeuner keine Skrupel hätten, Konkurrenten, die nicht aus dem eigenen Lager stammten» (11), zu erstechen, wenig später ist einer der Roma «kampfbereit wie ein kleiner, gereizter Stier», der «[z]weifellos […] sein Messer einsetzen» (29) würde, eine «ältere Frau mit zwei herausfordernd vorstehenden goldenen Schneidezähnen – die übrigen Zähne fehlten – bahnte sich mit ausgestellten Ellbogen und schrillen Schreien einen Weg zu dem Rasenden» (29), und so weiter. Damit ist die damalige Sichtweise des Bochumer Kleinbürgertums vielleicht eingefangen. Die Ausdrücke und aufgerufenen stereotypen Beschreibungen werden allerdings für einen reinen Plot-Effekt eingesetzt und ihm vollständig untergeordnet. Sie dienen hier dazu, einen aufwühlenden Schockmoment zu produzieren und spielen für den Text dann keine weitere Rolle. Das ist, völlig jenseits von vermeintlich ‘sprachpolizeilichen’ Überlegungen, literarisch und ästhetisch vor allem seicht. Die sprachlich-literarische Reflexionsleistung des Textes bleibt hier auf der gewöhnlichsten Ebene stereotyper Bildbestände und ihrer literarischen Verwendung.
Geheimnis und Gemälde
Fast wie ein Bruder bietet effektives, psychologisch reizvolles Erzählen und mindestens einen wirklich tollen Erzählkniff – den eines Ich-Erzählers, dessen Autor-Souveränität vom eigenen Gegenstand eingeholt und ausgehebelt wird: YOU, BROTHER! Sprachlich bleibt der Roman trotz fein gedrechselter Formulierungen allerdings in den Furchen bekannter Erzähl- und Beschreibungsmuster gefangen. Die Handlung endet mit einigen ungelösten Geheimnissen – angefangen bei der Frage, wer und warum Franks Gemälde entwendet und ausgestellt hat, nur um sie dann wieder spurlos verschwinden zu lassen.
Auf dem Bajour-Podium vor rund 130 Zuschauerinnen kamen im Juni 2023 der Basler Autor Alain Claude Sulzer und die Basler Kulturbeauftragte Katrin Grögel zu Wort. Am Ende der emotionalen Diskussion rund um die Zensurvorwürfe im Literaturbetrieb gab es einen Handschlag – echten Frieden jedoch nicht.
Dem Text nachgestellt ist, als eine Art Motto, folgendes Zitat von E.T.A. Hoffmann: «Nichts ist mir mehr zuwider als wenn in einer Erzählung, in einem Roman, der Boden, auf dem sich die fantastische Welt bewegt hat, zuletzt mit dem historischen Besen so rein gekehrt wird, dass auch kein Körnchen, kein Stäubchen bleibt, wenn man so ganz abgefunden nach Hause geht, dass man gar keine Sehnsucht empfindet, noch einmal hinter die Gardinen zu gucken.»
Wir verstehen: Wirkliche Kunst lässt sich nicht auserklären, und so liegt der Fall auch hier. Warum den vermeintlichen Geheimnissen eines Textes so wenig vertraut wird, dass seine höchst moderate Unaufgelöstheit und konventionelle Schreibweise im Nachgang mit grosser Autor-Geste als zu bewundernde Erzählkunst festgesetzt werden: Durchaus rätselhaft. Warum ausgerechnet E.T.A. Hoffmann, Verfasser von Künstler-Erzählungen, die ständig in übernatürliche, flirrende Welten abgleiten, hier als Stichwortgeber dient: Nur zu erklärbar.