Die Opfer auf beiden Seiten müssen gesehen werden
Der Krieg im Gazastreifen dauerte am Sonntag schon 100 Tage und es ist kein Ende in Sicht. Die Fronten sind verhärtet. Schuldzuweisungen aber bringen uns dem Frieden keinen Schritt näher. Es ist wichtig, die Opfer auf beiden Seiten zu sehen. Ein Kommentar.
Während in Basel am Wochenende tausende Demonstrant*innen an der grossen und friedlichen pro-palästinensischen Kundgebung teilgenommen haben, gedenken nicht nur Jüd*innen zur selben Zeit weltweit der mehr als 100 Menschen, die sich heute seit genau 101 Tagen in Geiselhaft der Hamas befinden.
Doch weder der Anschlag der Hamas noch die Geiseln wurden an der Demo vom Samstag thematisiert. Gefordert wurde neben einem sofortigen Waffenstillstand in Gaza hingegen die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen. Die beiden Geschichten können aber nicht losgelöst voneinander betrachtet werden – denn die israelische Regierung wird diesen Krieg nicht beenden, solange die Geiseln nicht freigelassen oder – im schlimmeren Fall – deren Leichen freigegeben werden.
Im Jahr 2011 kamen 1027 palästinensische Häftlinge für den israelischen Soldaten Gilad Shalit frei. Seine Geschichte ging damals um die Welt. Und weil in der jüdischen Religion eine Erdbestattung vorgesehen ist, wurden 2008 die Leichname der entführten israelischen Soldaten Eldad Regev und Ehud Goldwasser nach Israel zurückgeführt. Im Gegenzug wurde der libanesische Terrorist Samir Kuntar freigelassen.
Die Bedeutung der Geiseln
Israel wird also auch dieses Mal alles daran setzen, die Geiseln zurückzuholen, tot oder lebendig. Und die Hamas weiss das. Das Grundprinzip, an dem die Regierung immer wieder festgehalten hat, lautet: Kein Israeli wird zurückgelassen. Am vergangenen 7. Oktober verübten die Terroristen den tödlichsten Angriff auf Jüd*innen seit dem Holocaust. Was bedeutet das für den aktuellen Krieg im Gazastreifen? Nichts Gutes. Denn: Die Regierung schwor Vergeltung – und der Preis ist hoch, wie die Berichte und Bilder aus dem Krieg seither zeigen. Israel hat einen gewaltigen Vergeltungsschlag samt Zerstörung der Hamas angekündigt und wird von seinem Vorhaben nicht ablassen, solange nicht in Erwägung gezogen wird, die Geiseln freizulassen.
Die Fronten sind verhärtet, das erleben auch wir Journalist*innen. Wenn ich über das Schicksal von Amani, einer Frau aus Gaza schreibe, deren Kinder sich unter Beschuss befinden, wird mir auf X (vormals Twitter) vorgeworfen, ich würde antiisraelisch berichten. Und wenn ich jüdische Stimmen zu Wort kommen lasse, erhalte ich Mails, weil ich pro-jüdisch sei. Schuldzuweisungen aber bringen uns dem Frieden keinen Schritt näher. Vielmehr ist es von Bedeutung, beide Seiten zu Wort kommen zu lassen, um Verständnis und Empathie zu erzeugen in diesem grauenhaften Krieg.
Ein Wendepunkt
Der Angriff vom 7. Oktober hat das Selbstverständnis Israels bis aufs Mark erschüttert und ist daher ein Wendepunkt in er Geschichte des Staates – was nicht heisst, dass die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen nicht in Frage gestellt und kritisiert werden darf. Wenn es nun, 101 Tage nach Kriegsbeginn, darum geht, nach Lösungen zu suchen, spielt die Freilassung aller in den Gazastreifen verschleppten Geiseln eine bedeutende Rolle.
Bisher, so scheint es, gibt es auf beiden Seiten des Kriegs vor allem Verlierer*innen. Opfer sind die Menschen in Gaza ebenso wie die ermordeten Jüd*innen und die von der Hamas festgehaltenen Geiseln. Die Bilanz nach 100 Tagen Krieg ist erschreckend: Nachdem die Hamas mehr als 1200 Menschen tötete und 249 Menschen in den Gazastreifen verschleppte, reagierte Israel mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive.
Die Lage bleibt dramatisch
Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde sind dabei knapp 23’000 Menschen gestorben, etwa 58’000 wurden verletzt. Auf israelischer Seite sind 1’200 israelische und ausländische Todesopfer und mehr als 5’431 Verletzte verzeichnet worden. Die Lage für die Menschen im Gazastreifen bleibt dramatisch und spitzt sich zu – dennoch dürfen die Geiseln angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer und der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen nicht in Vergessenheit geraten.
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