Visionen mit Bart
Visionen für die nächste Generation, entwickelt von älteren Herren, scheinen der neue Zeitgeist zu sein. Auf der Strecke bleibt das Hier und Jetzt und eine Zukunftsperspektive für alle. Daher muss die jüngere Generation hartnäckig bleiben, findet Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Bald kommt wieder die Zeit, in der Kinder Briefe an den alten Mann mit weissem Bart schreiben. Und wenn die Erwachsenen etwas wollen, müssen sie oftmals ebenfalls auf einen mächtigen alten weissen Herrn in Regierungsfunktion hoffen, dass dieser in ihrem Sinn entscheidet oder die Zukunft in ihrem Sinn sieht oder aufgleist. Denn von den Zukunftsgestaltern, die aktuell – im Guten wie im Schlechten – den Zeitgeist vor sich hertreiben und politisch prägen, sind viele weit ü60. Die jugendliche Energie von Fridays for Future ist eine ferne Erinnerung. Alt bedeutet natürlich nicht gleich schlecht. Eine gewisse Dominanz von alten Männern in der Entwicklung von Zukunftsvisionen bis ins nächste Jahrhundert, bei einer Restlebenserwartung von wenigen Jahren, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen.
Und die Senioren erzielen Wirkung. Echauffiert sich alt Nationalrat Christoph Eymann (74) über irgendetwas, dann horcht Basel auf. Bringt sich nach langer Zeit Moritz Sutter (82) ein, um die Innerstadt von Trams zu befreien, kommt die Debatte auf die Agenda. Entwickelt SVP-Mann Christoph Blocher (85), die Zukunftsvision der anderen (Jüngeren), wird eine ziemlich gestrig erscheinende Neutraltiätsdebatte vom Zaum gebrochen. Und sein Anti-EWR-Kurs vom letzten Jahrhundert wird selbstredend bis in alle Ewigkeit weitergeführt.
Eine gewisse Dominanz von alten Männern in der Entwicklung von Zukunftsvisionen ist nicht von der Hand zu weisen.
Lange Horizonte, über das eigene Ableben hinaus, sind das Gebot der Stunde. Für Basel sehr relevant ist denn auch die Agenda von Blochers Parteikollegen, Verkehrsminister und Jungspund Albert Rösti (58). Dieser dämpft die Hoffnung auf ein Herzstück für Basel vor 2080 und träumt stattdessen von einem neuen Atomkraftwerk. Träume darf man ja haben. Sie sollten nur nicht zum Albtraum für die Bevölkerung werden.
So wie in den USA, wo Bidens (82) Nachfolger Trump (79), der seinen Demenzfragebogen für einen IQ-Test hält, die Rechte von Frauen und Minderheiten zurück in die 50er-Jahre katapultiert, als er selber jung war und seine Welt – als reicher weisser Mann – noch in bester hierarchischer Ordnung war. Der deutsche Kanzler, der in Kürze seinen 70. Geburtstag feiert, muss derzeit immerhin feststellen, dass er mit seiner Stadtbild-Diskussion nicht unbedingt die drängendsten Sorgen der Menschen erkannt hat.
Die Zukunft wird nicht nur durch das geprägt, was geplant und umgesetzt wird, sondern auch durch das, was auf der Strecke bleibt.
Anders als in Deutschland gibt es in der Schweiz wenigstens Volksabstimmungen, sodass die Bevölkerung zwischendurch den Finger heben kann, um Wünsche zu äussern und Verbesserungen einzufordern. Trotzdem: Der Nationalrat ist im Schnitt älter als die Schweizer Bevölkerung. Der Endfünfziger Rösti ist übrigens das jüngste (!) Mitglied des siebenköpfigen Bundesrats. In den mächtigsten Positionen sitzt eben nicht die struggelnde Jugend, die auch in 50 Jahren noch arbeiten soll und leben muss, sondern arrivierte Menschen in ihren 60ern, die sich langsam aber sicher auf den gut finanzierten Ruhestand einstimmen und mitunter komplett andere Dinge und Bedürfnisse im Kopf haben als Schulkinder, Arbeiter*innen, junge Eltern oder Auszubildende.
Hartnäckig müssen daher die Jüngeren bleiben beziehungsweise diejenigen, die tatsächlich für die Jugend eintreten wollen. Denn die Zukunft wird nicht nur durch das geprägt, was geplant und umgesetzt wird, sondern auch durch das, was auf der Strecke bleibt. Der politische Aktivismus der 80-Jährigen darf nicht zur Passivität oder zum Verstummen der kommenden Generationen führen. Es sollten in diesem Jahr also vielleicht auch grössere Kinder einen Wunschzettel für ihre Zukunftsperspektiven schreiben. Vielleicht erbarmt sich ja ein alter weisser Mann.