In Basel zu Hause

Kaum jemand hat in den letzten 12 Monaten mehr Zeit in der Basler Innenstadt verbracht als die Roma-Bettler*innen. Zeit, für ein ehrliches Basler Fazit aus Sicht der rumänischen Gäste – Trip-Advisor-Style.

Eine Bettlerin kniet in der Freien Strasse am Boden.
Basel will ein Raum für Begegnungen sein. In Sachen Gastfreundschaft haben die Basler*innen aber Verbesserungspotential. (Bild: Keystone)

Es gibt wohl wenig Geschäftsreisende, welche die Kulturmetropole Basel so gut kennengelernt haben wie die Roma. Seit über einem Jahr knüpfen sie hier Kund*innenkontakte. Doch am 1. September tritt das neue Bettelverbot in Kraft. Die Basler Politik will damit dem «Betteltourismus» (Zitat Regierung) einen Riegel vorschieben. 

Wer bei Armutsbetroffenen von Tourismus redet, muss auch mit den Konsequenzen in Form eiskalter Bewertungen leben. Bevor sie abreisen, bat Bajour die rumänischen Stammgäste um genau das gebeten: Eine Bewertung. Wie hat Basel punkto Szenerie, Gastfreundlichkeit und Übernachtungskomfort bei denen Gästen abgeschnitten, die auch bei Minustemperaturen auf der Strasse geschlafen haben? 

Je nach Bewertung gab’s im Anschluss von Bajour 1 bis 5 ⭐️ . So viel sei schon verraten: In Sachen Sauberkeit ist Basel top, bei der Mentalität der Einheimischen und dem subjektiven Sicherheitsgefühl der Dienstreisenden gibt’s Luft nach oben.

Alex, 20

Vor etwa zwei Monaten ist Alex mit seiner Mutter aus Rumänien in die Schweiz gereist. An Basel schätzt er die freundlichen Einheimischen. Die Unfreundlichen versteht er nicht.

Lieblingsort: Denner, Matthäusquartier 

Seit ein paar Wochen sitzt Alex vor dem Denner im Matthäusquartier. Der 20-jährige blinzelt uns nach einem kurzen Mittagsschläfchen noch etwas müde von unter seiner Wolldecke an. Es hat einen kleinen Dachvorsprung, unter dem Alex sich vor Regen schützen kann. Hier konnte Alex gute Geschäftsbeziehungen aufbauen, sagt er. Zum Beispiel zum Filialleiter, der ihn hier betteln lässt: «Er weiss, dass ich nicht stehle, nicht aggressiv bin, und begegnet mir immer sehr freundlich», meint Alex. Auch die Denner-Kund*innen schätzt der Rumäne: «Sie lassen mir beim Rausgehen manchmal Kleingeld da». 

Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️⭐️

Übernachten:

Wer tagsüber richtig betteln will, muss nachts gut schlafen. Das Verdikt von Alex ist in Sachen Übernachtungstipp eindeutig: «Am Besten ist es im de-Wette-Park.» Da gibt es für ihn, nur schon wegen der Nähe zum Bahnhof, keine bessere Alternative.

Bewertung: ⭐️⭐️⭐️⭐️

Basler Mentalität/Freundlichkeit:

«Die Menschen in Basel sind grosszügiger als in Rumänien», sagt Alex. Klar, nicht alle Einheimischen. Manche würden ihm wütende Sachen an den Kopf werfen, die er dann aber nicht versteht, weil er kein Deutsch spricht. «Ich glaube, dass die Menschen mir misstrauen und denken, dass ich sie hinters Licht führen will.» Manchmal werde er gefragt, warum er sich nicht einfach einen Job suche. «In meiner Situation würde ich jeden Job nehmen. Ohne Sprachkenntnisse bekomme ich aber keinen. Darum bettle ich.» Manche Passant*innen kommen aber regelmässig bei ihm vorbei und versuchen, oft auf italienisch, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Das schätzt Alex sehr an den Basler*innen. Es wäre schön, sich noch besser verständigen zu können. Das wünscht er sich am meisten. Er weiss aber, dass der Ball bei ihm liegt. 

Bewertung: ⭐️⭐️⭐️

No go Areas/Safety:

Tourist*innen bewegen sich meistens in der Innenstadt. Das ist auch bei Alex so. Er ist eigentlich immer an denselben drei Orten: Im Matthäusquartier, am Bahnhof und auf der direkten Verbindung dazwischen. Hier fühlt er sich am sichersten, sagt er. Die Stadt weiter zu erkundigen, auf diese Idee ist Alex bisher nicht gekommen. Die Vorstellung bereitet ihm Unbehagen. «Ich weiss jetzt, wo ich sein darf, wo die Polizei mich betteln lässt. Ich traue mich nicht an andere Orte», sagt er. 

Bewertung: ⭐️

Die Basler Betteldebatte im Überblick

Im Juni 2020 ging es los mit der kollektiven Empörung: Das Basler Bettelverbot fiel und Roma-Familien kamen nach Basel, um hier ihrem Business nachzugehen. Politik und Bevölkerung waren komplett überfordert mit der sichtbaren Armut. In der Folge begann eine öffentliche Diskussion, die sich über Monate hochschaukelte und vor allem ein Ziel hatte: Die Bettler*innen loszuwerden. Unter Federführung der SVP und der neuen LDP-Justizdirektorin verabschiedete der Grosse Rat ein neues Bettelverbot, am 1. September tritt es in Kraft.

Bajour begleitete das Drama. Unser journalistisches Credo: Wir reden mit den Rumän*innen, nicht über sie.

Gabriela*, 53

Gabriela hat Kopfschmerzen. Aber Zeit, sich hinzulegen und auszuruhen, die hat sie nicht. Geld für Medikamente hat sie auch nicht genug. Sie und ihr Mann sitzen wenige Meter voneinander entfernt am Claraplatz und betteln seit mehreren Wochen in Basel um Geld, um ihre Tochter und ihre Grosskinder in Rumänien zu unterstützen. Als wir sie auf rumänisch ansprechen, freut sie sich und erlaubt uns, uns neben sie zu setzen. In der Menschenmasse fällt sie kaum auf, die Passant*innen werfen bloss einen flüchtigen Blick auf die Frau mit dem gepunkteten Kopftuch, die am Boden auf einer roten, filzigen Wolldecke sitzt. Vor sich hat sie ein Kartonschild stehen, auf dem sie um Geld für Essen bittet. 

Liebster Standort: Tramstation, Claraplatz

Am hochfrequentierten Claraplatz halten sich Gabriela und ihr Mann am liebsten auf. Hier treffen sie auf potenzielle Spender*innen. In Gehdistanz befinden sich alle für sie wichtigen Standorte: «Wir nutzen hier das öffentliche Klo, unsere Schlafplätze sind in der Nähe.» Hier fühlt sich Gabriela am sichersten: «Wir bleiben lieber an einem Ort, den wir kennen.»

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐

Übernachten:

Bei trockenem Wetter schlafen Gabriela und ihr Mann im Wettsteinpark. Den regnerischen Sommer verbrachten sie aber vor allem unter dem Kirchendach oder vor dem Lillys. Nachts seien hier oft Betrunkene unterwegs, vor denen sich Gabriela fürchtet. «Aber hier sieht uns die Polizei. Das gibt mir ein gutes Gefühl. Dann weiss ich, dass wir sicher sind», sagt sie.  Ärger hätten sie bis jetzt mit niemandem gehabt. «Wir benehmen uns anständig, klauen nichts. Darum lassen sie uns in Ruhe, glaube ich.» 

Bewertung: ⭐⭐⭐

Mentalität/Freundlichkeit:

«Eine Rumänin kommt manchmal bei mir vorbei und gibt Geld und etwas zu essen.» Das sei auch deshalb schön, weil sie dann Gelegenheit hat, ihre Muttersprache zu sprechen und verstanden wird. «Manche Leute sind herzlich und verständnisvoll. Andere bespucken und beschimpfen uns. Es gibt beides», sagt sie nüchtern. 

Bewertung: ⭐⭐

Lowlights/Highlights:

Gabriela vermisst ihre Familie sehr. Ihr kommen die Tränen, als sie über ihre Tochter und ihre Grosskinder spricht. «Ich habe sie schon so lange nicht gesehen«, sagt sie, ihren Blick auf den Boden gerichtet. Die Kinder ihrer Tochter sind 10 und 16 Jahre alt. Der Ehemann hat Gabrielas Tochter vor fünf Jahren verlassen. Seither unterstützen Gabriela und ihr Mann sie finanziell. Es läuft aber nicht besonders gut für sie in Basel. «Es fühlt sich an, als wären wir umsonst gekommen. Wir haben bisher nur wenig Geld verdient, sagt sie. 

Bewertung: ⭐

Wir würden gerne bleiben.

Robert, 33

Robert reist solo. Frau und Kinder, ein Junge und ein Mädchen, sind in der Heimat geblieben. Basel gefällt ihm sehr gut, das Essen findet der gelernte Konditor aber gewöhnungsbedürftig.

Lieblingsort: Coop, Greifengasse

Robert begrüsst uns winkend, wir setzen uns zu ihm auf den Boden. Er bettelt in der Basler Innenstadt vor dem Coop. Das Leben des 33-jährigen spielt sich seit Wochen auf diesen wenigen Quadratmetern ab. Angelehnt an die Scheibe der Busstation bittet er Passant*innen um Geld. Der Standort scheint Robert ideal, viel Personenverkehr und Schutz vor dem Regen.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐

Übernachten:

Nachts verschiebt Robert seine Besitztümer um etwa eineinhalb Meter vor die geschlossene Tür des Ladens. Durch einen Vorsprung hat er Schutz vor dem Wetter des doch ziemlich verregneten Basler Sommers. Bis jetzt liess man ihn hier in Ruhe. Was er sehr zu schätzen weiss.

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐

Basler Mentalität/Freundlichkeit:

Basel gefällt! Die grundsätzlich herrschende Sauberkeit der Strassen schätzt Robert als überdurchschnittlich ein, aber auch die Grosszügigkeit der Leute. «Es ist sauber hier, eine reiche Stadt.» In anderen Städten hat er auch schon gebettelt. Basel ist ein gutes Pflaster. Aber: Anwohner*innen schütten ihm in der Nacht manchmal von oben aus dem Fenster Wasser über den Kopf. Das gibt massiven Abzug für die gesamte Basler Freundlichkeit nach dem Motto: mitgehangen, mitgefangen.

Bewertung: ⭐️

Essen/Kulinarik:

Das Essen ist dem Gast aus Rumänien nicht so ganz geheuer. «Ich bin ausgebildeter Konditor. Ich weiss nicht, irgendetwas fehlt dem Gebäck hier. Es schmeckt nicht ganz so gut, wie bei uns zu Hause», meint er schmunzelnd. Und den Rahm (Tourist*innen sagen gerne «Sahne») findet er fad. Aber eben. Andere Länder, andere Essgewohnheiten.

Bewertung: ⭐⭐

Highlight/Lowlight

«Im Rhein bade ich manchmal«, erklärt Robert freudig. Das Angebot, in einem grossen sauberen Fluss zu schwimmen, der mitten durch die Stadt geht, weiss er zu schätzen. Aber ganz auf naturverbundene Hygiene will er sich dann doch nicht verlassen. Am meisten leidet Robert darunter, dass er keine Möglichkeit findet, seine Kleider sauber zu halten. «Wo soll ich waschen?», will er wissen. Das soll nicht wie eine Anklage tönen. Aber hier sieht er Verbesserungspotenzial.

Bewertung: ⭐

Maria*, Alter unbekannt 

Maria, man kann es nicht anders sagen, ist ein Basel-Fan. Medien mag sie aber weniger. Die Rumänin läuft uns an der Schifflände mit ihrem Sohn Tibor entgegen. Viel Zeit hat Maria nicht, ihr jugendlicher Sohn zieht an ihr. Mit Journalist*innen wolle er nicht reden. Maria ist ähnlich misstrauisch, ihre Antworten kurz angebunden. Mit Basel als Geschäftsstandort ist sie aber rundum zufrieden. Ihre ganze Familie sei hier, sagt sie. Sie und ihr Mann betteln, um Essen für die Kinder kaufen zu können. 

Lieblingsort: Das Zentrum

Maria sitzt nicht gerne den ganzen Tag am gleichen Ort. Mit dem Becher in der Hand, spaziert sie durch Basels Innenstadt und fragt die Menschen im Vorbeigehen nach Geld. «Im Zentrum hat es viele Leute», sagt sie. Das rentiere eher. Basel gefällt ihr gut. Hier hätten die Menschen Geld, das spüre man. Rumänien fehle ihr nicht. Dort hatten ihre Familie und sie keine Perspektive, kein Geld. 

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐⭐

Übernachten:

Meistens übernachtet Maria mit ihrer Familie im de-Wette-Park. Der ist schon seit einem Jahr beliebt als Übernachtungsort. «Dort ist es sauber, kühl und stinkt nicht. Das ist wichtig, sonst werden die Kinder krank», sagt Maria. Angst habe sie nie, das verdankt sie aber nicht nur der Basler Sicherheit, sondern auch dem Herrn. «Ich vertraue auf Gott.» 

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐

Mentalität/Freundlichkeit:

Unterschlupf finden Maria und ihre Familie manchmal bei einer Rumänin aus Basel. Das sei eine grosse Hilfe, dann könne sie ihren Kindern nämlich auch mal etwas Warmes zu essen kochen. Ab und zu dürften sie dort auch übernachten. Sie wurde von ihr auf der Strasse angesprochen. An den Basler*innen hat Maria nichts auszusetzen. Sie seien freundlich zu ihr. 

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐

Essen/Kulinarik: 

Am besten schmecken Maria das Fleisch und das Brot in der Schweiz. «Das Hühnchen ist hier besonders gut!»

Bewertung: ⭐⭐⭐⭐

__________

* Namen von der Redaktion geändert

Bajour-Herz
Mit den Roma reden statt über sie ...

... das klappt nur dank dir. Danke, dass du Bajour unterstützt 🤍

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Bei Bajour als: Reporterin

Davor: Zürcher Studierendenzeitung, Republik und anderes

Kann: vertrauenswürdig, empathisch und trotzdem kritisch sein

Kann nicht: Still sitzen, es gut sein lassen, geduldig sein

Liebt an Basel: Die vielen Brücken, Kleinbasel

Vermisst in Basel: Das Meer

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