Das Dilemma bleibt

Am Vergewaltigungsfall an der Elsässerstrasse entzünden sich Konflikte: Das Opfer trägt niemals eine Schuld. Aber welche Umstände gelten als strafmildernd für den Täter? Auch das neue Sexualstrafrecht braucht Interpretationsspielraum.

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Hunderte Frauen solidarisierten sich mit dem Opfer im Vergewaltigungsfall Elsässerstrasse. Am 8. August demonstrierten sie vor dem Basler Appelationsgericht gegen das Urteil der Richterin Lieselotte Henz. (Bild: Keystone-SDA)

Triggerwarnung: Dieser Artikel enthält explizite Schilderungen sexualisierter Gewalt.

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Am frühen 1. Februar 2020, ein Samstag, steigt eine Frau angetrunken in das 11er-Drämmli. Sie war lange feiern, ist müde und will nach Hause. Im Tram trifft die 33-Jährige zufällig auf einen alten Bekannten – sie kennt ihn seit 13 Jahren – und seinen Kumpel. Die beiden Männer bieten der Frau an, sie nach Hause zu begleiten. Sie willigt ein. 

Als sie vor ihrer Haustüre stehen, bedrängen sie die beiden Männer (32 und 17), im Windfang vor ihrem Haus in der Elsässerstrasse. Sie versucht sich zu wehren: Die Männer ringen die Frau gewaltsam zu Boden und vergewaltigen sie. Die Frau brüllt, aber Ihre Schreie bleiben unbemerkt. Die beiden Männer lassen nach ein paar Minuten von ihr ab und fliehen. Die Frau greift aufgelöst zum Telefon und benachrichtigt die Polizei. 

Seitdem lässt die Geschichte Basel nicht los.

Noch am gleichen Abend versammeln sich rund 100 Personen auf dem Claraplatz für eine spontane Kundgebung. «Alle zwei Wochen wird in der Schweiz eine Frau durch ihren Partner oder Expartner ermordet. Jede Woche überlebt eine Frau einen solchen Mordversuch. Vergewaltigung in der Ehe war in der Schweiz bis 1992 erlaubt», skandiert eine junge Frau in ein Megaphon. 

Die Anteilnahme ist gross. Bajour spricht ein paar Tage später mit Menschen im Quartier. In der Metzgerei Pippo paniert eine junge Frau gerade Schnitzel, als ihr die Tränen in die Augen schiessen: «Die Frau, diese Frau tut mir so unendlich leid. Ich muss immerzu an sie denken. Am meisten macht mich traurig, dass niemand etwas dagegen tun konnte. Das macht mich wirklich sehr betroffen. Wir waren so nah, und haben nichts bemerkt, wir haben nichts tun können», sagt sie. Hätte sie nur etwas davon mitgekriegt: «Ich wäre hingelaufen, ich hätte geschrien, ich hätte auf die Männer eingeschlagen, ganz egal was.»

Die Polizei kann die beiden Tatverdächtigen rasch ermitteln. Sie haben sich nach Portugal abgesetzt. Nach einer internationalen Fahndung stellt sich der Haupttäter den Behörden. Die Anklage lautet: Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung. Im medial minutiös begleiteten Prozess folgt das Strafgericht der Anklage und spricht eine Freiheitsstrafe von 51 Monaten und einen Landesverweis aus. Das Opfer bekommt 12'000 Franken Genugtuung.

Jede Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung zu viel. Da sind sich alle einig. Aber wie können solche Taten verhindert werden? Ist das Gesetz noch zeitgemäss? Braucht es härtere Strafen? Gleichzeitig mit dem Basler Prozess gewinnt die Debatte über das Schweizer Sexualstrafrecht an Fahrt. 

Bewegungen wie #Metoo, #SchweizerAufschrei und der Frauenstreik 2019 haben feministische Fragen nach sexualisierter Gewalt, struktureller Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit wieder mitten in die Öffentlichkeit katapultiert. 

Die Tat an der Elsässerstrasse ruft das alles in Erinnerung. 

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Das revidierte Sexualstrafrecht fordert das, was die Demonstrant*innen hier skandieren: Nur Ja heisst Ja. Sexuelle Handlungen ohne Zustimmung würden dann unter Strafe fallen. (Bild: Keystone-SDA)

Was ist, wenn das Opfer lügt? 

Als ein knappes Jahr später, am 30. Juli 2021, das Appellationsgericht sein Urteil mündlich eröffnet, wird Basel erneut von  einer Welle der Empörung erfasst. Der Täter, der die Berufung eingelegt hatte, bleibt zwar wegen Vergewaltigung verurteilt, wird aber nun deutlich milder bestraft. Das Strafmass für eine Vergewaltigung beträgt eins bis zehn Jahre. Das Dreiergremium unter dem Vorsitz von Gerichtspräsidentin Liselotte Henz (FDP) reduziert das Strafmass auf drei Jahre. Davon sind 18 Monate bedingt. Der Täter wird statt acht, sechs Jahre aus der Schweiz verwiesen und muss weniger Genugtuung bezahlen.

Mündlich begründet wird dies unter anderem mit einem Satz, der sich im kollektiven Bewusstsein einbrennen wird: «Die Frau hat mit dem Feuer gespielt». Das Vergehen werde relativiert durch «die Signale, die das Opfer auf Männer aussendet», so die Richterin. 

Viele Basler*innen interpretieren aus diesem Satz: Das Opfer trägt eine Mitschuld an der Tat. Aus Protest gehen 500 – die Veranstalter*innen sprechen von 1000 – Personen auf die Strasse: «Nicht mit uns!» heisst es, «Nur Ja heisst Ja!». Das Frauenstreik-Kollektiv Basel spricht in einer Stellungnahme von Victim Blaming. Gerichtspräsidentin Liselotte Henz soll zurücktreten, fordern manche der Protestierenden.

Jurist*innen kontern, dass solche Forderungen nichts bringen und Richter*innen unnötig durch die Öffentlichkeit unter Druck gesetzt würden und die Gewaltentrennung auf dem Spiel stehe. 

Auch die Politik meldet sich zu Wort. Linke und bürgerliche Politiker*innen äussern über Social Media ihr Unverständnis über das Urteil und ziehen ihre eigenen Schlüsse. Jérômie Repond, Vorstandsmitglied der jungen SVP Basel-Stadt, fordert auf Twitter härtere Strafen für Vergewaltiger:

So unglücklich der Satz der Richterin auch ist, aus juristischer Sicht ist es schwierig, daraus sofortiges politisches Handeln zu fordern. Denn der Kontext fehlt: Erst die schriftliche Urteilsbegründung wird die Überlegungen des Dreiergerichtes transparent machen. Die ehemalige Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer formuliert es in einem bemerkenswerten Interview mit der «Republik» pointiert: Schliesslich «sind wir nicht einfach im Mittel­alter, wo nach Intuition oder Emotion entschieden wird».  

Doch wie bestraft man eine Vergewaltigung? Was gilt als strafverschärfend? Was als strafmildernd? Die Dauer der Handlung, die Vertrautheit zwischen Opfer und Täter? Wie viel Spielraum haben die Richter*innen?

Diese Fragen sind nicht nur Fragen der Rechtsprechung. Es sind Fragen unserer Moralvorstellungen und wie sich unsere Gesellschaft als Ganzes verändert. Und das Unbequeme daran: Es gibt keine einfachen Antworten.

Sind alle Vergewaltigungen gleich schlimm? Ist es egal, wie lange sie dauern, wie gewalttätig sie sind? Welche Rolle spielt es, was der Täter gedacht, angenommen, interpretiert hat? Kommt es darauf an, wie sich das Opfer verhalten hat?

Das Opfer trägt absolut keinerlei Mitschuld. In keinem Fall. Aber eine Richterin, die etwa das Strafmass des Täters bemessen soll, kann diesen relativierenden Fragen nicht ausweichen. Was zu einem gerechten Strafmass, oder – bei einer völlig verunglückten Kommunikation wie im vorliegenden Fall – zu einer Vermischung von Opfer- und Täterrolle und zu grosser Empörung führen kann.

Der «hilflose Mann» im Zentrum

Franziska Schutzbach, Genderforscherin und Lehrbeauftragte an der Universität Basel, forscht über gesellschaftliche Klischees auf Kosten der Opfer, so genannte Vergewaltigungsmythen. Diese halten sich laut Schutzbach hartnäckig: «Die Vorstellung, dass Übergriffe an Frauen durch ihr Verhalten provoziert werden, weil sie sich zum Beispiel zu sexy kleiden, ist nach wie vor weit verbreitet.» Das habe mit dem Glauben zu tun, dass Männer den Reizen der Frauen hilflos ausgeliefert und deshalb schutzbedürftig seien, erklärt Schutzbach. «Es findet eine Täter-Opfer-Umkehr statt.»

Bis heute sei ausserdem die Idee verbreitet, Männer hätten einen Anspruch auf die Liebe und den Körper einer Frau, «egal ob diese das will, oder nicht», sagt Schutzbach.

Soziologische Studien aus den USA zeigen, dass Vergewaltigungsmythen dermassen verinnerlicht sind, dass sogar Frauen, die bereits sexuelle Gewalt erfahren haben, diese reproduzieren und sich selbst eine Mitschuld an der Tat geben.

Diese frauenfeindliche Ideologie drückt sich laut Schutzbach auch darin aus, dass Männern, die der sexuellen Gewalt beschuldigt werden, oft mehr Mitgefühl entgegengebracht wird, als dem Opfer.

In der Wissenschaft spricht man von «Himpathy». Gesellschaftlich herrsche eine Grundsympathie für Männer, die dazu führe, dass ihr Verhalten milder beurteilt werde. Die Dynamiken sind komplex, es ist ein Wechselspiel: «Verhält sich ein Opfer untypisch, ist es also nicht passiv und psychologisch zerstört, nimmt man ihm das Leid nicht ab», erklärt die Geschlechterforscherin. Die Schwere der Tat des Vergewaltigers wird moralisch in Frage gestellt.

Feminist*innen, darunter auch Schutzbach, sehen diese Vergewaltigungsmythen in den Aussagen der Richterin bestätigt. Auf die Frage, welche strafmildernden Umstände Schutzbach für den Täter im konkreten Fall gelten lassen würde, winkt die Soziologin allerdings ab und verweist darauf, keine Juristin zu sein.

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11 Minuten. So lange dauerte die Vergewaltigung an der Elsässerstrasse. Das Gericht sprach von einer «kurzen Vergewaltigung», was in Basel für Empörung sorgte. (Bild: Keystone-SDA)

Was also meinen die Jurist*innen? 

Die meisten, die sich in den Medien geäussert haben, stimmen  mit der aktuellen Auslegung des Rechts überein. Strafverteidiger*innen zum Beispiel. Sie befassen sich mit den Täter*innen, und strafmildernden Umständen.  Mit ihren Innenleben, mit ihren Motiven, mit ihren Lebensumständen, mit ihrer Affekthaftigkeit. Mutmassliche Vergewaltiger zu verteidigen, ist nicht einfach. Einer, der das tut ist der Basler Anwalt Andreas Noll. 

Das Grundproblem bei den Sexualstraftatbeständen sei nicht das Rechtliche, sondern der Sachverhalt. «In praktisch allen Vergewaltigungsfällen handelt es sich um eine Situation Aussage gegen Aussage», folglich lasse sich eine Täterschaft praktisch nie beweisen. Es gehe schlussendlich um die Wahrheitsfindung, erklärt Noll, denn «ohne Wahrheit kein Recht». 

Wie steht es um die Mitschuld des Opfers aus dem Blickwinkel der Verteidigung? 

Eine Strafe habe schuldangemessen zu sein, erklärt Noll. Es gehe nicht nur um das dem Opfer zugeführte Leid, sondern auch um das Verschulden des Täters. Es gehe gar nicht um eine Opfermitschuld, sondern um die Perspektive des Täters.

Er macht ein Beispiel: «Wenn ich meine Brieftasche im Restaurant liegen lasse und sie jemand mitnimmt, ist es für mich zwar das gleiche, wie wenn jemand in meine Wohnung eindringt und mir meine Brieftasche vom Nachttisch klaut. Das Verschulden des Täters ist jedoch ein anderes. Ebenfalls ist das Verschulden des Täters ein anderes, wenn er mir mein Velo stiehlt, das ich nicht abgeschlossen habe stehen lassen, als wenn ich es an eine Strassenlaterne angekettet habe.»

Das Gericht sei bei der Strafzumessung verpflichtet, eine dem Verschulden des Täters angemessene Strafe auszufällen, und «es hat dabei sämtliche Umstände zu berücksichtigen». Das gelte auch für Sexualstraftaten. 

Kann das Dilemma zwischen der Anerkennung des Unrechts am Opfer und einer für den Täter gerechten Strafe also nicht gelöst werden?

«Nur Ja heisst Ja»

Die Frage geht an die Strafrechtlerin Nora Scheidegger. Sie kennt das Sexualstrafrecht bis ins letzte Detail. Und will es gründlich reformieren (siehe Box).

Faktoren, die das Strafmass beeinflussen, seien nötig, um individuell und transparent auf Taten und Täter eingehen zu können, sagt auch Scheidegger: «Ein Fremder, der eine Frau vergewaltigt, ist genauso schuldig wie der Ehemann oder Freund, der sich an seiner Frau oder Freundin vergeht. Aber Abstufungen gehören zum Rechtssystem dazu. Es gibt Faktoren, wie die Vorgeschichte und Umstände, die das Strafmass beeinflussen können.»

Ein weiteres Beispiel: Die Tat eines unbekannten Mannes, der eine Frau nachts überfällt und sich an ihr vergeht, geht meist gewaltvoller und brutaler vor als ein bekannter Täter und diese zusätzliche Gewalt wird dann auch schwerer gewichtet. «Ob das richtig ist, ist eine andere Frage», sagt Scheidegger. «Denn bei der Vergewaltigung durch einen Bekannten ist der immense Vertrauensbruch, den der Täter damit begeht, für das Opfer oft mindestens so schlimm wie körperliche Gewalt.» 

Ein weiteres Beispiel: Ist ein Täter stark alkoholisiert, gilt er in seiner Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit eingeschränkt, was sich mildernd auf das Strafmass auswirken kann. 

Jeder Fall wird gesondert betrachtet und durchleuchtet. Das sei auch richtig so, sagt Scheidegger. Das Problem sei, wenn bei Sexualdelikten das vorherige oder allgemeine, vermeintlich «freizügige», Verhalten des Opfers einer moralischen Bewertung unterzogen und als Anknüpfungspunkt herangezogen würde, um das Verschulden des Täters zu relativieren. 

Die Basler Juristin Kathrin Bichsel hat sich als Anwältin auf die Vertretung von Opfern im Strafverfahren spezialisiert. Für sie ist, ebenso wie für Scheidegger, klar: «Das Sexualstrafrecht ist veraltet.» So hat Bichsel schon viele Fälle erlebt, in welchen die erlebte sexualisierte Gewalt den Straftatbestand der Vergewaltigung nicht erfüllte. Dies, weil es bei der Durchsetzung der sexuellen Handlungen die für das Gesetz zwingende Nötigung fehlte. «Das ist sehr demütigend», erzählt Bichsel: «Das Gesetz basiert auf veralteten Vorstellungen», etwa, dass sich Opfer von sexuellem Missbrauch mit aller Kraft gegen die Tat wehren müssten oder gar selbst schuld daran seien, was ihnen widerfahren ist. «Die Idee, dass Frauen Männer zu unrecht beschuldigen würden, um ihnen zu schaden, ist immer noch vorhanden.» Dies obwohl Expert*innen davon ausgehen, dass die Quote von Falschbeschuldigungen, die sich nur schätzen lässt, zwischen 3 und 20 Prozent liegen dürfte.  

So kann es vorkommen, dass wenn Opfer als Reaktion die Tat wie gelähmt über sich ergehen lassen – das Gericht aus Mangel an Beweisen einen Freispruch fällen, «da sich der Einsatz eines nötigenden Mittels nicht nachweisen lässt», wie es im Jurist*innen-Deutsch heisst.

Und auch wenn die Tat gefilmt oder aufgezeichnet wird, ist die Lage nicht eindeutig. Kathrin Bichsel gibt als Beispiel summarisch einen Fall wieder: Eine junge Frau, noch minderjährig, wurde bei einer Party von mehreren Personen bedrängt, zuerst machte man sich über sie lustig, dann wurde sie sexuell missbraucht. Die Tat wurde mit einem Handy gefilmt. Weil aber keine vaginale Penetration stattfand und die junge Frau sich nicht aktiv gewehrt hat, sondern «es über sich ergehen liess», kam es gar nicht zu einer Anklage.

Derzeit wird von den eidgenössischen Räten eine Revision des Sexualstrafgesetzes beraten. Wäre das die Lösung?

An dem Urteil über den Fall aus der Elsässerstrasse hätte es nichts geändert, sagt Nora Scheidegger: «Der Täter wurde der Vergewaltigung schuldig erklärt. Punkt.» Deshalb hält sie auch nichts von der Forderung, die Richterin im Fall Elsässerstrasse zu entlassen. 

Für Scheidegger deutet aber die Art und Weise, wie mit dem Opfer kommuniziert wurde, auf das mangelnde psychosoziale Wissen zu Sexualdelikten hin, das an manchen Gerichten immer noch herrsche. «Es braucht dahingehend mehr Sensibilisierungsarbeit.» 

Die Revision des Sexualstrafrechts

Die Strafrechtlerin Nora Scheidegger ist der Meinung, dass es eine grundsätzliche Debatte darüber braucht, wie mit Sexualdelikten umgegangen wird. Juristisch wie moralisch.

Bislang ist der Vergewaltigungstatbestand, Art. 190 StGB, eng definiert: Nur, wenn das Opfer bedroht wird, unter psychischen Druck gesetzt wird, zum Widerstand unfähig gemacht wird oder wenn Gewalt angewendet wird, gilt eine ungewollte Penetration in die Vagina als Vergewaltigung. Dass ein Opfer Nein sagt und mit dem Akt nicht einverstanden ist, reicht nicht aus.

Und: Nur Personen weiblichen Geschlechts können betroffen sein. Wenn non-binäre Menschen und Personen männlichen Geschlechts vergewaltigt werden, wenn die Gewalt anal oder durch Gegenstände oder mit den Händen geschieht, dann fällt das fürs Gesetz unter andere Tatbestände.

Nun soll das Gesetz ausgeweitet werden. In Scheideggers Dissertation, die landesweit Schlagzeilen machte, schlägt sie vor, einen Grundtatbestand einzuführen, der sexuelle Handlungen ohne Zustimmung unter Strafe stellt. Der Vorschlag wurde vom Parlament aufgenommen. Die Rechtskommission des Ständerats hat im Februar die Vernehmlassung eröffnet.

Vorgeschlagen werden diverse Anpassungen der geltenden Strafrahmen sowie Änderungen bei den Tatbeständen, wie die Umschreibung des strafbaren Verhaltens. Neu soll auch das Anbahnen von sexuellen Kontakten mit Kindern explizit mit Strafe bedroht werden. Weiter wird die Schaffung eines Tatbestands des «sexuellen Übergriffs» vorgeschlagen. 

Die Revision wird von den linken Parteien der GLP, der Mitte-Partei und der FDP, Menschenrechts-, Kinderschutz- und Opferorganisationen, von Gleichstellungsbeauftragten und der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen EKF befürwortet. Die SVP zeigt sich mit dem Kernanliegen grundsätzlich einverstanden, bemängelt jedoch Details der Umsetzung.

Ähnlich argumentiert die Expertin für sexualisierte Gewalt Agota Lavoyer. In der NZZ am Sonntag schreibt sie: «Wir brauchen eine Rechtsprechung, die mit der Zeit geht und die den durch Wissen, Aufklärung und Sensibilisierung gewandelten sozialen Anschauungen über Sexualdelikte endlich Rechnung trägt.» Es gehe letztlich um die Frage, welche Anforderungen wir an das soziale Verhalten eines Mannes stellen: Und das sei nun einmal der absolute Respekt vor einem Nein.

Es bleibt Auslegungssache

Das Nein als Grundsatz im Gesetz zu verankern, sei schon mal ein Fortschritt, meint Kathrin Bichsel. Obwohl dann das Opfer nach wie vor nachweisen muss, dass es «Nein» gesagt hat: «Noch besser wäre es, wenn wir uns am schwedischen Modell, ‹Nur Ja heisst Ja› orientieren würden und die sexuelle Selbstbestimmung als das schützenswerte Rechtsgut anerkennen.» Damit schaffe man für alle Klarheit und beseitige diskriminierende Mechanismen. «Die entscheidende Frage soll sein, ob das Opfer zugestimmt hat oder nicht», betont Lavoyer.

Was ist aber mit dem Strafmass? Sollte es darum gehen, möglichst hohe Strafen für Sexualdelikte zu erwirken? Bichsel meint, die Strafen hätten sich in den letzten Jahren zwar erhöht, aber «sie sind immer noch eher tief». Es gehe aber vor allem darum, das Unrecht am Opfer zu anzuerkennen. 

Anderer Meinung ist Andreas Noll: Die Revision des Sexualstrafrechts ziele darauf ab, das Beweismass beträchtlich zu senken, was zu einer massiven Umverteilung der Beweislast führe, weil der von vom Staat zu erbringende Beweis auf die fehlende Ja-Aussage beschränkt werde. In der Folge müssten Unschuldige ihre Unschuld beweisen können: «Dadurch wird man sicherlich zahlreichen vergewaltigten Frauen gerecht, indem die Täter nicht mehr so einfach mit einem in dubio pro reo Freispruch davonkommen», räumt er ein, «auf der anderen Seite werden vermehrt auch wegen dieser Beweiserleichterung Fehlurteile gefällt und Unschuldige verurteilt werden.» 

Faktisch kehre man mit einer Einführung einer «Nur-Ja-heisst-Ja-Regel» zur früheren Praxis in Aussage gegen Aussage Konstellationen zurück, wo noch keine Glaubhaftigkeitsbeurteilung den Beweis erbringen konnte, sagt Andreas Noll, nur mit umgekehrten Vorzeichen: «In solchen Fällen wird das Urteil dann stets auf schuldig lauten. Dadurch führt man zwar alle Vergewaltiger ihrer gerechten Strafe zu, bestraft jedoch gleichzeitig in zahlreichen Fällen auch vermehrt Unschuldige.» Das dürfe die Gesellschaft nicht ausblenden und auch nicht akzeptieren.

Der Täter im Fall der Elsässerstrasse sitzt aktuell noch in Haft. Am 11. August hätte er eigentlich aus dem Gefängnis entlassen werden sollen. Weil er aber für unbezahlte Bussen aufkommen muss, verlängert sich seine Haftstrafe nun um sechzehn Tage. Unterdessen hat die Basler Staatsanwaltschaft ausserdem beantragt, den Mann so lange in Haft zu bewahren, bis das schriftliche Urteil publiziert wurde und entschieden ist, ob der Prozess weiter an das Bundesgericht gezogen wird. Das Gericht hat diesen Antrag abgelehnt.

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Korrektur: In einer früheren Version haben wir geschrieben, dass die ganze Vergewaltigung von einer Kamera aufgezeichnet wurde. Das ist so nicht korrekt, darum haben wir den Satz entfernt.

Wir wollen es genau wissen.

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