Wer anzeigen will, muss zahlen

Seit 2024 darf die Staatsanwaltschaft bei Anzeigen wegen Ehrverletzung eine Art Depot verlangen. In Basel beträgt sie 800 Franken. JGB-Grossrätin Anouk Feurer findet das «absurd».

Anouk Feurer
Anouk Feurer erzählte im Oktober 2024 von ihren Erfahrungen mit Hass im Netz. (Bild: Ernst Field)

«Ich wäre vermutlich nicht in die Politik gegangen, hätte ich gewusst, was für Backlash es gibt», sagte Anouk Feurer, Grossrätin des jungen grünen Bündnisses im Oktober zu Bajour. Unter einem Video auf Instagram und TikTok schwappte ihr Hass entgegen, darunter auch strafrechtlich relevante Kommentare, wie sie erklärt.

Feurer wollte sich wehren. Viele der Kommentare kamen von anonymen Absender*innen. Strafrechtlich dagegen vorzugehen, ist schwierig. Ein Absender verfasste zwei Kommentare, in denen er sie als «Gschwür» bezeichnete und ihr wünschte, dass sie «von Minderheiten» vergewaltigt werde. Letzteres ist eine Annahme von Feurer, denn was genau er ihr wünschte, sparte der Kommentarschreibende mit «…» aus. Aus dem Kontext, der Bajour in einem Screenshot vorliegt, ist klar: Ein guter Wunsch war das jedenfalls nicht. 

Ein entscheidender Punkt unterscheidet diese Kommentare von den anderen: Der Absender trat mit seinem echten Namen auf.

Titelgif Hass im Wahlkampf
Hass im Wahlkampf

Laetitia Block, Anouk Feurer, Jafar Ghaffarnejad und Ella Haefeli erzählten Bajour im Oktober 2024, wie sie mit Hass im Wahlkampf umgehen. Sei das im Netz oder auf der Strasse.

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Für eine Anzeige sind das «gute» Voraussetzungen, dachte Feurer und ging mit den Kommentaren dieser Person zur Polizei. «Das schlägt einem schon auf die Psyche, wenn man so etwas erlebt», sagt sie. «Ich kann damit umgehen, aber ich wollte es vor allem anzeigen, um aktiv etwas gegen diesen Hass zu machen.» Auch die Polizei habe ihr bestätigt, dass die zwei Kommentare eine Anzeige wert wären – weil sie ehrverletzend sind und Feurer aus den Social Media-Profilen nicht nur weiss, wie der Kommentarschreiber heisst, sondern auch in welchem Kanton er wohnt und sogar wer sein Arbeitgeber ist. 

Doch Feurer verliess den Polizeiposten, ohne Anzeige zu erstatten. 

Der Grund: Sie müsste dafür 800 Franken bezahlen. Denn seit Januar 2024 gilt: Wer Ehrverletzung zur Anzeige bringen will, kann dafür zur Kasse gebeten werden. Dahinter steckt eine neue Regelung im Schweizer Strafprozessrecht, die den Stawas erlaubt, bei Ehrverletzungsdelikten die strafantragstellende Person aufzufordern, «innert einer Frist für allfällige Kosten und Entschädigungen Sicherheit zu leisten». Also quasi ein Depot. Wenn ein*e Täter*in ermittelt und verurteilt wird, erhält man das Geld als Antragstellende*r zurück.  

«Das schlägt einem schon auf die Psyche, wenn man so etwas erlebt.»
Anouk Feurer

Die Handhabung obliegt den einzelnen Kantonen: In Basel-Stadt kann die Stawa 800 Franken dafür verlangen, im Thurgau 1000, in Zürich sogar bis zu 2100 Franken. «Das ist doch absurd», findet Feurer. Auch wenn sie verstehen kann, dass es eine Art Hürde geben muss, um die Stawa vor unnötigen Anzeigen und dem damit verbundenen Aufwand zu bewahren. 

So begründete auch der Bund diese Regelung: Oft stehe bei Ehrverletzungsdelikten der Wunsch nach persönlicher Vergeltung im Vordergrund. In diesen Fällen rechtfertige sich das Verlangen eines Vorschusses. Feurer findet aber: «Diese Regelung führt de facto dazu, dass Ehrverletzungen derzeit nur dann geahndet werden, wenn die Opfer finanziell in der Lage sind, diesen Betrag zu tragen.» Der Zugang zum Recht werde in solchen Fällen «praktisch verwehrt».

Anouk Feurer im Grossen Rat
Anouk Feurer – hier im Grossen Rat – hat eine schriftliche Anfrage beim Regierungsrat deponiert. (Bild: Michael Fritschi)

Feurer hat deshalb eine schriftliche Anfrage beim Regierungsrat deponiert. Sie will unter anderem wissen, in welchen Fällen die Stawa einen solchen Kostenvorschuss verlangt und ob sie in Einzelfällen differenziert – zum Beispiel nach dem Einkommen der Betroffenen. Ausserdem fragt sie den Regierungsrat, ob er überlegt, diese Regelung anzupassen und welche Überlegungen es auf kantonaler oder eidgenössischer Ebene gibt, «die Bearbeitung von Anzeigen, insbesondere bei Straftaten im Internet, zugänglicher und fairer zu gestalten».

Bereits angepasst wurde die Praxis für Anzeigen von Kantonsangestellten. Kriminalkommissär René Gsell schreibt auf Anfrage von Bajour: «Seit Kurzem erhebt die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt keine Sicherheitsleistungen mehr, wenn Kantonsangestellte während ihrer dienstlichen Tätigkeit in der Ehre verletzt werden und sie Anzeige erstatten.» Damit folge sie der Praxis in anderen Kantonen.

«Eigentlich darf es doch nicht an Geld gebunden sein, wenn man geltendes Recht durchsetzen will.»
Anouk Feurer

Ob es auch für Nicht-Kantonsangestellte Anpassungen gibt, bleibt abzuwarten. Grossrätin Anouk Feurer betont jedenfalls, es gehe ihr mit dem Vorstoss um eine Grundsatzfrage: «Eigentlich darf es doch nicht an Geld gebunden sein, wenn man geltendes Recht durchsetzen will», findet sie. 

Ob sie die 800 Franken nun bezahlen will und die Anzeige erstattet, überlegt sie sich noch. Ihre Partei habe ihr auch angeboten, den Betrag zu übernehmen. Trotzdem: «Das ist Geld, das sowohl ich als auch die Grünen für andere Sachen brauchen können.» So fühle es sich ein bisschen wie Pokern an, sagt sie: «Ich muss mir jetzt überlegen, ob die Anzeigen eine Chance haben oder nicht.» Obwohl sie die Personalien der Kommentarschreiber und Screenshots als Beweise hat, ist sie unsicher, ob sie das finanzielle Risiko in Kauf nehmen soll.

Damit dürfte sie nicht allein sein. Genaue Statistiken dazu gibt es nicht, der Beobachter hat im September aber Zahlen aus verschiedenen Kantonen veröffentlicht zum Verhältnis von verschickten Vorschuss-Rechnungen und eingegangenen Zahlungen. Die Einzahlquote legt den Schluss nahe, dass der Vorschuss «zumindest auf einen Teil der Antragstellenden» abschreckend wirkt.

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Michelle Isler

Das ist Michelle (sie/ihr):

Nach einem Masterstudium in Geisteswissenschaften und verschiedenen Wissenschafts- und Kommunikations-Jobs ist Michelle bei Bajour im Journalismus angekommen: Zuerst als Praktikantin, dann als erste Bajour-Trainee (whoop whoop!) und heute als Redaktorin schreibt sie Porträts mit viel Gespür für ihr Gegenüber und zieht für Reportagen durch die Gassen. Michelle hat das Basler Gewerbe im Blick und vergräbt sich auch gern mal in grössere Recherchen.

Kommentare

Markus Müller
20. November 2024 um 08:38

Fraglich

Rechtsstaat à la Suisse. Opferschutz bekommt also nur, wer ihn sich leisten kann.