Gefährlich wird es zu Hause
Die angezeigten Fälle im Bereich der häuslichen Gewalt steigen, dieses Jahr gab es in der Schweiz bereits neun Femizide. Frauen werden immer wieder zum Opfer ihrer Ehemänner oder Ex-Partner. Und der Aufschrei bleibt aus. Ein Kommentar von Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Es ist die Woche der Kriminalstatistiken. Eine Zahl, die heraussticht, ist die zu häuslicher Gewalt. In Basel gab es einen Anstieg von 21 Prozent im Vergleich zum Vorjahr: 2023 wurden 654 Taten angezeigt, 2024 waren es 791. «Häusliche Gewalt ist ein Verbrechen, das im Verborgenen stattfindet», sagte Milena Jossen, Leiterin der Kriminalpolizei, Anfang Woche an der Medienkonferenz. Heisst: Die Dunkelziffer ist hoch. «Paradoxerweise könnte die hohe Zahl der Anzeigen also erfreulich sein: Möglicherweise gibt es nicht mehr Vorfälle. Vielleicht sind die Opfer auch mutiger geworden und zeigen das Vergehen öfter an.» Genau weiss das aber niemand.
Was sich allerdings immer deutlicher zeigt, während immer noch das Klischee vom fremden Mann vorherrscht, der sich aus einem Busch auf eine vorbeilaufende Frau stürzt: Die Gefahr lauert meistens zu Hause. Häusliche Gewalt ist ein verharmlosender Begriff für gewalttätige Übergriffe aus Frauenhass. Meistens handelt es sich bei den Betroffenen um Frauen, die von (Ex-)Partnern, Brüdern, Vätern oder Söhnen bedroht, angegriffen oder sogar ermordet werden. Mehr als die Hälfte (57,8%) der Tötungsdelikte in der Schweiz fanden «im häuslichen Bereich», also innerhalb der Familie oder einer (ehemaligen) Beziehung statt. Es waren vergangenes Jahr 26 Personen, die ihr Leben verloren, 19 wurden vom aktuellen Partner oder der Partnerin getötet, 17 der Getöteten waren Frauen – 90 Prozent. Wird eine Frau aus Frauenhass getötet, wird von einem Femizid, einer geschlechtsspezifischen Tat gesprochen.
Femizide werden in den Statistiken des Bundes immer noch nicht gesondert ausgewiesen. Die Taten sind weniger sichtbar und können schlechter politisch adressiert werden.
Es kann offensichtlich gefährlich für eine Frau in einer Partnerschaft sein. Besonders gefährlich wird es, wenn eine Frau sich dazu entscheidet, sich zu trennen. Nora Markwalder, Kriminologin an der Universität St. Gallen sagte kürzlich gegenüber dem Medienmagazin Edito: «Der heikelste Moment für einen Femizid ist die Trennung.» Bisher wird der Begriff Femizid vor allem von Frauenrechtler*innen verwendet und immer häufiger auch von Medien. Es spricht sich langsam herum, dass man den Opfern und den Taten nicht mit Begriffen wie «Beziehungsdrama» oder «Familientragödie» gerecht wird, wenn es sich doch eigentlich um einen einseitigen Mord handelt. Femizide werden aber in den Statistiken des Bundes immer noch nicht gesondert ausgewiesen. Das hat Konsequenzen. Die Taten sind so weniger sichtbar und können schlechter politisch adressiert werden.
Erschreckend ist etwa die besonders hohe Zahl an Tötungsdelikte an älteren Frauen im Bereich «Häusliche Gewalt»: In der Schweiz werden am häufigsten Frauen über 70 von ihren Nächsten getötet. Auch im vergangenen Jahr war das so. Davon habe ich diese Woche zum ersten Mal gehört. Warum interessiert es in der breiten Masse kaum jemanden, wenn eine Frau umgebracht wird? Dieses Jahr gab es in der Schweiz bereits neun Femizide und zwei versuchte Femizide, wie das Rechercheprojekt «Stop Femizid» festhält. Der Bundesrat zeigt sich «alarmiert», findet aber, die bisherigen Massnahmen reichten aus. Danke für gar nichts.
«Adolescence» ist eine fiktive Erzählung über menschliche Abgründe, die die halbe Welt umzutreiben scheint und nahe geht. Das schaffen die wenigsten realen Fälle, bei denen echte Leben zerstört werden.
Man kann sich also nicht einmal darauf einigen, die Tötungsdelikte als Femizid zu bezeichnen, während immerhin die Netflix-Serie «Adolescence» für grosses Aufsehen sorgt, in der ein 13-jähriger Junge aus Frauenhass seine Mitschülerin mit einem Messer umbringt. Es ist eine fiktive Erzählung über menschliche Abgründe, die die halbe Welt umzutreiben scheint und nahe geht. Das schaffen die wenigsten realen Fälle, bei denen echte Leben zerstört werden. Wie kann das sein?
Genau das kritisiert Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt, in einem Reel auf Instagram. Sie schreibt: «Wieso berührt es offenbar viele Menschen, wenn Misogynie in der Fiktion tötet, aber glauben uns dasselbe nicht, obwohl wir es seit Jahrzehnten sagen?» Sie verweist auf die vielen Femizide, auf Gewalt gegen Frauen wie Stalking und Vergewaltigungen. Und fragt: «Wo bleibt der Schock? Der Aufschrei?» Ich frage mich das auch.
Die Frauenhäuser in der Schweiz und in Liechtenstein haben vergangenen Sommer die Alarmglocke geschlagen, da immer mehr Frauen Schutz suchten, aber die Plätze fehlten. Sie schrieben: «Aktuell bietet die Schweiz nur 0.24 Familienplätze pro 10'000 Einwohner*innen an, anstelle von einem Familienzimmer pro 10'000 Einwohner*innen, wie es vom Europarat im Rahmen der Istanbul-Konvention empfohlen wird.» Auch hier blieb der Aufschrei aus. Genauso wie die politischen Konsequenzen. Frauen, die vom Frauenhaus abgewiesen werden, bleiben weiterhin häufig in einer Gefahrensituation, da der Wohnungsmarkt angespannt ist und ihnen die finanziellen Mittel fehlen.
Politiker*innen – auch die dezidiert unfeministischen – müssen anfangen, Gewalt gegen Frauen und Femizide ernst zu nehmen. Sie müssen nicht nur die Statistiken anpassen, sondern auch Geld investieren, um Frauen und Mädchen den Schutz zu geben, den sie brauchen. Am wichtigsten ist es jedoch, die Sensibilisierung der Männer zu pushen und diese in die Verantwortung zu nehmen. Denn: Gewalt gegen Frauen ist ein Männerproblem, kein Frauenproblem. Aber momentan müssen vor allem Frauen mit Leib und Leben dafür hinstehen, was die Politik seit Jahrzehnten verschlafen hat und bis heute nicht beim Namen nennt.