Vergewaltigungen mit der Stoppuhr

Das Bundesgericht korrigiert seine Formulierung zum Basler Vergewaltigungsurteil als «Unding». Die Dauer einer Vergewaltigung darf nicht zu Gunsten des Täters ausgelegt werden. Gut so, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Wochenkommentar Vergewaltigung
Nachdem das Basler Appellationsgericht entschied, das Strafmass zu senken, gab es Proteste. (Bild: Keystone/SDA/Collage: Bajour)

Vor mehr als vier Jahren löste eine Vergewaltigung an der Elsässerstrasse Entsetzen aus. Die Tat an sich, aber auch der Umgang mit der betroffenen Frau vor Gericht. Das Basler Appellationsgericht entschied 2021, das Strafmass für einen der beiden Täter um mehr als ein Jahr zu reduzieren. Das Gericht begründete das unter anderem mit der «relativ kurzen Dauer» der Vergewaltigung. Ist eine Vergewaltigung weniger schlimm, wenn sie weniger lange dauert als in anderen Fällen? Eine perfide Frage. Hunderte protestierten gegen den Entscheid. «11 Minuten zu lange», hiess es auf einem Plakat, das auf die Dauer der Tat anspielte. Letztes Jahr landete der Fall beim Bundesgericht, dieses stützte das Urteil aus Basel.

Nun forderte ein verurteilter Vergewaltiger im Wallis ebenfalls eine mildere Strafe wegen der kurzen Dauer der Tat – und berief sich dabei auf den Basler Fall. Das Bundesgericht geht jedoch nicht darauf ein und kritisiert die eigene Bezeichnung «Vergewaltigung von kurzer Dauer» als «Unding». Es hält fest: Die Dauer einer Vergewaltigung dürfe «nie zu Gunsten des Täters» gewertet werden, wenn überhaupt für eine Verschärfung des Strafmasses.

Die Täter-Opfer-Umkehr ist ein bekanntes Phänomen. Frauen wird ihre «zu kurze Kleidung» vorgeworfen und die Signale, die sie ausgesendet hätten. Als wäre ein Rock eine Einladung für eine Vergewaltigung.

Die Korrektur des Bundesgerichts ist wichtig. Solche Kommentare in Urteilsbegründungen haben grosse Schlagkraft – schliesslich dienen sie auch in folgenden Verfahren als Orientierung. Worte wirken. Klar ist: Wäre der Fall aus dem Wallis nicht aufgekommen, hätte es bis heute keine Richtigstellung gegeben. Die betroffene Frau hat nun während mehr als drei Jahren mit der offiziellen Einschätzung leben müssen, dass ihre Vergewaltigung nicht ganz so lang war wie andere und der Täter dadurch entlastet wird. Die Gerichte sollten sich nicht hinter juristischen Spitzfindigkeiten verstecken, sondern sorgfältig argumentieren – mit Rücksicht auf das Opfer. 

Damals bei der mündlichen Urteilsbegründung hiess es zudem, die Frau habe «mit dem Feuer gespielt». Mit ihrem Verhalten vor der Tat wurde ihr eine Mitverantwortung angelastet. Klassisches Victim Blaming. Die Täter-Opfer-Umkehr ist ein bekanntes Phänomen. Frauen wird ihre «zu kurze Kleidung» vorgeworfen und die Signale, die sie ausgesendet hätten. Als wäre ein Rock eine Einladung für eine Vergewaltigung. Und als wäre der (zumeist) männliche Täter solchen Reizen durch seine Triebe hilflos ausgeliefert. Das wird offenbar genauso strafmildernd ausgelegt wie wenn sie während der Tat alkoholisiert waren. Wird eine Frau im Rausch missbraucht, hat sie nicht gut genug auf sich aufgepasst und ist ein zu grosses Risiko eingegangen.

Wer möchte eine Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung anzeigen, wenn immer wieder davon berichtet wird, wie Frauen nicht geglaubt, ihnen eine Mitschuld gegeben wird.

Erst kürzlich wurden die Vorwürfe der sexuellen Belästigung einer Frau vor einem Schweizer Gericht nicht ernst genommen – aufgrund ihres Verhaltens gegenüber dem Angeklagten im Zeitraum der Taten. Selbst der Staatsanwalt stellte sich vor Gericht gegen die Klägerin. Am Ende gab ihr der Richter allerdings Recht.

Wer möchte eine Vergewaltigung oder sexuelle Belästigung anzeigen, wenn immer wieder davon berichtet wird, wie Frauen nicht geglaubt, ihnen eine Mitschuld gegeben wird oder wie die Täter in Schutz genommen oder gar freigesprochen werden?

Die Beweislast liegt bei Vergewaltigungen oder sexueller Belästigung häufig beim Opfer, weil die Taten oft ohne Zeug*innen geschehen und Aussage gegen Aussage steht. Im Zweifel für den Angeklagten. Das ist der Grundsatz – und das Dilemma. 

Wer würde einer Frau glauben, sie sei seit Jahren von unzähligen Männern vergewaltigt worden, ohne es unmittelbar gemerkt zu haben?

Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, dass Frauen die Würde durch anmassende Gerichtsverfahren gar nicht erst genommen wird.

Der aktuell in Frankreich verhandelte Fall von Gisèle Pelicot wirft diese Frage auf. Pélicot wurde jahrelang von ihrem Ehemann sediert und so ohne ihr Wissen oder ihre Zustimmung im Internet zum Sex mit fremden Männern angeboten. Sie wurde Dutzende Male vergewaltigt, auch von ihrem Mann. Hätte er einen Grossteil der Taten nicht auf Video aufgezeichnet, wäre das Ausmass der Taten wohl nicht ans Licht gekommen. Und Pélicot hätte sich weiterhin gewundert, warum sie grosse Gedächtnislücken und gynäkologische Beschwerden hat. 

Ein Vorbild, das es eigentlich nicht geben dürfte

Pélicot hat zu Beginn der Verhandlung darauf bestanden, dass der Prozess öffentlich ist und auch Bild- und Videomaterial der Taten gezeigt werden. Viele waren überrascht davon, denn Péilcot hat sich damit von der Opferrolle emanzipiert. «Die Scham muss die Seite wechseln», sagte sie zu Prozessbeginn. Sie ist ein Vorbild, das es eigentlich nicht geben dürfte. Nicht brauchen sollte. Sie sollte keine Vorreiterin sein, sondern der Standard. Es sollte klar sein, dass Frauen, die Opfer einer Vergewaltigung geworden sind, sich nicht schämen oder auf übertriebene Weise rechtfertigen müssen. Es sollte nicht «mutig» sein, sondern der Normalfall, dass Betroffene ohne von aussen auferlegte Zweifel oder Ängste über das reden, was ihnen angetan wurde. Leider ist die Realität vor Gericht immer wieder eine andere. Bei weitem nicht jedes Opfer sexualisierter Gewalt ist psychisch in der Lage, solch einen Prozess durchzustehen.

Umso bemerkenswerter ist es, welche Kraft Pélicot aufbringt, um nicht nur für die eigene Ehre, sondern für die aller betroffenen Frauen einzustehen. Und umso deutlicher wird, was es in Frauen auslöst, wenn ⁠Gerichte auseinandernehmen, welche Kleidung Opfer trugen und wie viele Minuten sie unter ihren Vergewaltigern zu leiden hatten – es ist entwürdigend. Es ist nicht an den Frauen, sich diese Würde zurückzuerobern. Und es ist nicht an den Gerichten, «schnelle» Straftäter zu belohnen. Es ist die Aufgabe der Gesellschaft, dass Frauen die Würde durch anmassende Gerichtsverfahren gar nicht erst genommen wird.

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