Auf der Suche nach innerem Frieden
Eine geflüchtete Wissenschaftlerin aus der Ukraine schreibt von ihrem Jahr in Basel und was es aus materieller Sicht für sie bedeutet hat.
Vor etwa einem Jahr, kurz nach Kriegsbeginn, trafen wir Olha Martynyuk zum Interview. Damals erklärte die Historikerin die Beziehung zwischen Russland und der Ukraine und schilderte ihre spontane Flucht. Eigentlich wollte sie nur drei Wochen in Basel bleiben, warten, bis sich alles wieder beruhigt. Es kam anders. Inzwischen hat Olha Martynyuk eine Wohnung bezogen und arrangiert sich mit ihrer neuen Heimat. In diesem Artikel schildert sie – aus materieller Sicht – wie es ist, einen Teil seines Eigentums aufgeben zu müssen und neue Sachen anzusammeln.
Eine Woche vor Kriegsausbruch stand ich in der Mitte meiner Wohnung in Kiew und musste eine schwere Entscheidung treffen. In jenem Moment ist mir klar geworden, dass der kommende Krieg kein Witz ist, und ich mein wertvolles Eigentum in Sicherheit bringen sollte – indem ich es per Post in die Westukraine zu meiner Mutter schicke. Die Frage war nur, welche meiner Sachen wirklich wertvoll sind.
Klamotten, Schuhe, Geschirr und Möbel sind in gebrauchtem Zustand nicht viel wert. Sie zu verschicken ist schwierig, weil sie so viel Platz einnehmen. Mein Rechner und mein Handy kosten zwar viel, aber wie könnte ich je ohne? Vielleicht sollte ich meine Bilder von feministischen Künstlerinnen meiner Mutter schicken, dachte ich mir, aber was inspiriert mich dann im Alltag und was denkt meine Mutter über solche Kunst?
Ich spürte damals, an diesem sonnigen Februartag, dass mein Eigentum nur einen Wert als gesamte Sammlung hat. Es gab nicht die eine, wichtige Sache mit grossem emotionalen oder monetären Wert. Anderthalb Wochen später bin ich in Basel mit zwei Rucksäcken gelandet. Zwei kleine Gepäckstücke mit einem Tischtennisschläger, Wanderschuhen, einem Badeanzug und ein paar bequemen Klamotten, mehr nicht. Das sollte reichen, um drei Wochen bei meinem Freund auszukommen, bis es wieder ruhig in der Ukraine wird. So dachte ich zumindest damals.
«Wenn einem seine Sachen fehlen, ist das Leben nicht dasselbe, nicht vollständig.»Olha Martynyuk
In meine alte Wohnung bin ich nie zurückgekehrt. Seither baue ich eine neue Sammlung mit Eigentum auf. Eine Sammlung, die meinen Bedürfnissen – alten sowie neuen – entspricht. Es geht dabei um Komfort, körperliches Wohlbefinden, soziale Integration und inneren Frieden. Wenn einem seine Sachen fehlen, ist das Leben nicht dasselbe, nicht vollständig. Mit meiner neuen Sammlung versuche ich, mein Leben zu reparieren und wieder Normalität zu finden. Dieser Prozess wird noch lange dauern.
Keine Lust auf Shopping
Früher hatte ich nie darüber nachgedacht, dass man in Frühling und Herbst die gleichen Kleider trägt. Jetzt war es anders: Von Ende März bis Juli musste ich das Wetter klamottenmässig aufholen, im Herbst konnte ich wieder aufatmen.
Zum Shoppen hatte ich keine Lust. Mein Vater war gerade im Verteidigungskampf verletzt worden. Zudem musste seine Familie aus dem besetzten Gebiet in der Region Butscha fliehen, um sich einen Monat später zu freuen, dass ihr Haus nur geplündert, aber nicht ausgebrannt war.
Ungefähr zeitgleich machte sich meine Mutter mit ihrer ängstlichen Katze auf den Weg in die Schweiz. Und ich hatte mittlerweile jeden Tag überlegen müssen, was ich mit meinem Leben anfangen wollte.
Die Hitze zwang mich, in die Welt chilliger Musik, relaxter Kunden und freundlicher Verkäufer zu treten. Sofort habe ich mich als Opfer des Konsums gefühlt.
Die Gesellschaft wird nicht mehr in soziale Schichten und Gender eingeteilt, sondern in zwei Gruppen, die verschiedene Kleidungsstile haben. Die erste Gruppe besteht aus Leuten, die immer Socken in der gleichen Farbe tragen, die sich wohl in Sportschuhen und demselben Paar Jeans fühlen, und die immer Kleider von derselben Marke kaufen. Solche Leute, dachte ich, sind gut auf Krisenzeiten vorbereitet.
Leider gehörte ich zur zweiten Gruppe – die Gruppe, die die eigene Garderobe sorgfältig auswählt, um damit den eigenen Geschmack und seine Werte auszudrücken. Ich habe mich mal entschieden, keine schwarzen und weissen Kleider zu kaufen, meine bunten Socken auf meine bunten Schuhe abzustimmen, und verschiedene Socken in verschiedenen Jahreszeiten zu tragen. Auf der Strasse sah ich ähnlich tickende Leute: elegante Frauen in gut geschnittenen Jacken, schön gerundeten Brillengestellen und Samtballerinas; gepiercte Jugendliche, deren Garderobe teils aus Omas Kleiderschrank und teils aus neuesten Modetrends bestand; Wandernde, die jedes farbiges Stück Garderobe aus speziellen Sportläden für recht viel Geld gekauft hatten.
Mode, Schönheit und Individualismus – das alles basiert nicht auf Intelligenz, sondern auf Verletzlichkeit. Die Soldaten, die an der Front kämpfen, sind stark, weil sie sich wenig Sorgen um Schönheit machen. Für sie sind gute Kleider praktische Kleider, und noch dazu in Camouflage. Ich schämte mich, dass ich über solche Sachen, wie die Farbe meiner Socken, nachdachte.
In normalen Zeiten kann es lange dauern, bis ich das Richtige zum Anziehen finde, aber jetzt hat sich alles beschleunigt. Das Wetter zwang mich dazu. Jeder Kauf fühlte sich an wie ein kleiner Sieg. Aber dieser Sieg musste dann bald in die Waschmaschine, die ich nicht immer zur Verfügung hatte. Mein Gefühl sagte mir, dass meine Klamotten nicht richtig zusammenpassen. Mein Kleidungsstil hatte aber gerade keine Priorität. Trotzdem: Bei Kontakt mit neuen Menschen hatte ich das Gefühl, dass ich nicht selbst vor ihnen stehe, in meiner zusammengesuchten und nicht immer frisch gewaschenen Kleidung. Ich habe ihnen nichts gesagt, sie haben wahrscheinlich nichts bemerkt, aber innerlich wollte ich schreien: «Das hier ist nicht mein wahres Ich, das ist gerade irgendwo anders – in der Zeit vor dem Krieg.»
Den ganzen Sommer habe ich meine Reise in die Ukraine ständig umgeplant. Es drohte immer noch ein erneuter Angriff auf Kiew aus Belarus. Ende des Sommers habe ich endlich die Entscheidung getroffen, in Basel zu bleiben und meine Mietwohnung in Kiew zu kündigen. Eine junge Archäologin hat gegen ein Honorar meine Sachen in 33 Stunden eingepackt – ganz sorgfältig, so wie die Archäologen es mit ihren keramischen Scherben tun. Sieben Kisten mit insgesamt etwa 70 Kilogramm hat sie mir nach Basel geschickt. Den Grossteil meiner Sachen, Möbel und anderes, hat sie auf den Estrich meiner Verwandten gebracht – in das Haus, das geplündert wurde und immer in Gefahr ist, besetzt zu werden.
Abschied per Video
Ein Online-Umzug klingt sehr modern und nach Corona-Zeiten. Für mich war es ein Experiment. Als die Archäologin in meine Wohnung ging und mich von dort per Video anrief, musste ich plötzlich weinen. Es hat wehgetan, mich nicht selbst von dieser Wohnung verabschieden zu können, und meine Sachen nicht selbst regeln zu können. Irgendwann habe ich mich beruhigt – wichtig war, dass ich keine Miete mehr zahlen musste und meine Sachen nach Basel kamen.
Schnell wurde der Umzug zu einem geregelten Prozess: Alle 15 bis 25 Minuten hat mir die Archäologin Bilder geschickt und ich habe darauf in zwei Farben Markierungen gemacht: Die eine Farbe stand für «Schweiz», die andere für «Estrich». Das Sortieren fiel mir leicht, aber ich kam überhaupt nicht zum Arbeiten, ich war zu abgelenkt, um meine wissenschaftliche Literatur zu studieren. Jedes Bild weckte Erinnerungen, ich war voll nostalgischer Gedanken. Was hatte ich in welcher Ecke der Welt gekauft, welche Gerichte mit welchen Küchenutensilien gekocht, welche Looks mit meinem Schmuck und meinem Make-up kreiert?
Beim Online-Zügeln gab es auch mühsame, unerwünschte, sogar dramatische Momente. In meiner gut gepflegten und sauberen Wohnung gab es viele Sachen, die keinen Nutzen mehr hatten. Alte Kugelschreiber, die ich nicht mehr benutzt, aber auch nie weggeworfen hatte. Einen Sack mit alten Einkaufstaschen, die ich nie geschafft hatte, zu sortieren. Alte Kabel, viele kleine Sachen, die keine bestimmte Ordnung hatten. Unangenehm war mir, dass jemand durch meine Socken, Unterwäsche und auch meine Menstruationsprodukte ging.
Mein Fazit des Online-Umzugs: 90 Prozent Effizienz und 10 Prozent Verwirrtheit. Verwirrt hat mich der Blick ins Unerwartete: Einzelne Socken, die es erfolgreich nach Basel geschafft haben und sich hier mit ihren einsamen Kollegen verbunden haben. Ich bekam ausserdem einen Haufen verdorbener Schönheitsprodukte – die Cremes waren den ganzen heissen Sommer in der geschlossenen und unbelüfteten Wohnung. Leider hat die Archäologin die Markierungen nicht immer richtig verstanden, sodass meine sehr geliebten Finken es nicht nach Basel schafften.
Der beste Laden Basels
Hier gibt es einen Laden, dessen Filialen normalerweise abends und Wochenende offen sind. Da kauft man alles – Geschirr und Kleider, Bücher und Möbel, von allen möglichen Marken. Oft hat man Glück und findet hochwertige Sachen, und das sehr günstig. Aber: unverpackt und ohne Lieferservice. In jedem Quartier findet man eine Filiale, sogar auf jeder Strasse, online gibt es auch Angebote. Der Laden heisst: Gratis zum Mitnehmen (GZM).
Als ich Ende Dezember in meine neue Wohnung einzog, bin ich eine Kundin von GZM geworden und habe eine ganz neue Perspektive auf die Stadt entwickelt. Wenn ich online endlos durch private Inserate scrolle, ich schamvoll im Dunkeln die Kisten auf dem Trottoir durchsuche, ich vor den Türen unbekannter Häuser warte, bis jemand öffnet und mir im Gang etwas Magisches gibt – dann frage ich mich oft, wer die Leute sind hinter den verkauften Sachen. Auf der Gärngschee-Seite sehe ich oft zügelnde Leute, für die ich manchmal Mitleid spüre und manchmal Freude. Es sind oft Studierende und Ausländer oder auch Pärchen die zusammenziehen, die Sachen verkaufen – Leute in Bewegung, so wie ich.
Ich sehe manchmal reiche Leute, die ihre Sachen gerne für viel Geld verkaufen würden, weil sie einmal teuer waren. Aber weil sie zu wenig Zeit haben, stellen sie alles nach draussen und wollen, dass es sofort verschwindet, ohne Nachricht oder Bedingung.
Wer die Leute sind, die Sachen gratis mitnehmen, ist schwieriger einzuschätzen. Ich bin sicher eine davon, und viele andere Geflüchtete aus der Ukraine auch. Meine Bekannte N. macht es so: Erst wünscht sie sich irgendeinen Gegenstand, einige Tage später findet sie ihn auf der Strasse.
Ein paar Mal bin ich zu einer Adresse gekommen, um etwas für 20 bis 40 Franken zu kaufen. Als ich eine Frage dazu stellte, konnten die Verkäufer keine Antwort geben. Es war klar: Die Verkäufer hatten das Teil selbst irgendwo gratis bekommen und dann weiterverkauft. Ein anderes Mal habe ich online Sachen zum Verkauf gesehen, die kurz vorher bei mir in der Nähe an der Strasse standen. Jemand muss auf solche Sachen Jagd machen, ohne sie selbst zu brauchen.
«Mit der Flucht tauscht man die eigenen Möglichkeiten gegen Sicherheit.»
Die mentale Belohnung, etwas Gutes als Geschenk oder für wenig Geld zu bekommen, ist immer wieder stark, aber ganz umsonst ist es nicht. Man bezahlt für die Sache mit Zeit und Verantwortung, die Sache irgendwann zu entsorgen.
Die Gratis-zum-Mitnehmen-Welt Basels ist eine dunkle, schattige Welt, wo alles unsichtbar passiert, ohne Regeln und nicht nachverfolgbar. Wo Schmutz und Schatz dasselbe ist, abhängig von den Händen, die es halten. Eine Mischung von Nachhaltigkeit und verantwortungsvollem Wegschmeissen. Ein Kreislauf von Geschichten, Kunststilen und Massenmarkt, die aus Kellertiefen auftauchen und wieder in anderen Kellern abtauchen. Eine Welt voll von Helden und Verbrechern. Ein Spiel mit Zeit und Geld, bei dem es nicht immer klar ist, wer gewinnt und wer verliert.
Flucht und Sachen
Ein Mensch kann nicht ohne Sachen leben, aber es gibt keine Sache, die man ewig benutzt oder nicht verkaufen kann. Sachen bedeuten Möglichkeiten: Mit besonderen Küchenutensilien kann man etwas Neues kochen, mit einem Klavier kann man Musik spielen.
Mit der Flucht tauscht man die eigenen Möglichkeiten gegen Sicherheit. Viele Ukrainer entschieden sich, diesen Tausch nicht zu machen. Man braucht immer neue Sachen. Nicht nur, weil sie abgetragen sind, sondern auch, weil man neue Ansprüche hat. Sachen sind immer in Bewegung – wie die Menschen, die sie besitzen.
Unterstütze unabhängigen Journalismus und werde Bajour-Member.