Mitreden ist keine Frage des Alters

Die Jungen abstimmen zu lassen, wäre eine Bereicherung, findet Chefredaktorin Ina Bullwinkel. Denn die Älteren haben einen entscheidenden Vorteil: Sie sind viele und bestimmen allein dadurch den Ausgang so mancher Abstimmung.

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Was habe ich mich geärgert, im Jahr 2005, als bei den Bundestagswahlen Angela Merkel (CDU) gegen Gerhard Schröder (SPD) antrat, und ich nicht abstimmen durfte. Ich war 15 Jahre alt und wusste: Die Person, die jetzt gewählt wird, wird unter Umständen für 16 Jahre meine Kanzlerin sein, würde Einfluss nehmen auf meinen Alltag für eine lange Zeit meines Lebens, ohne dass ich mitreden konnte. Genauso kam es, Merkel blieb viermal vier Jahre an der Macht. Die Grundlage dafür wurde ohne meine Stimme gelegt. Ich bin heute noch empört, wenn ich in mich hineinhöre. 

Umso erstaunter war ich, als ich die Bajour-Umfrage zur Abstimmung über das Stimmrechtsalter 16 in Riehen gelesen habe. Einige der befragten Jugendlichen sprechen sich deutlich gegen ein Mitspracherecht aus. Sie sagen, Menschen in dem Alter seien noch nicht reif genug oder hätten keine Ahnung von Politik. Auch wenn die Umfrage nicht repräsentativ ist, hört man solche Stimmen doch immer wieder: Die Jungen würden sich zu wenig auskennen, hätten zu wenig Lebenserfahrung, seien leicht von politischer Propaganda zu beeinflussen.

Dass auch 90-Jährige über Belange abstimmen, die sie im besten Fall noch etwa zehn Jahre betreffen, ist problematischer als junge Menschen abstimmen zu lassen.

Wieso gibt es so wenig Vertrauen in die Meinungen und in das Urteilsvermögen der Jungen? Warum glauben viele Jugendliche selbst nicht, dass sie etwas Wertvolles zu den Wahlen beitragen könnten? Die Eltern und das nähere Umfeld müssen ihre Verantwortung wahrnehmen und Lust machen auf Politik. Aus meiner Sicht heisst das, seine Kinder an die Demokratie heranzuführen, ihnen zu erklären, wie das politische System arbeitet, welchen Einfluss Abstimmungen, aber eben auch Gesetze auf das Leben haben können. Wo sind die Stimmen, die sich für Babys, Kinder, Jugendliche, junge Familien einsetzen? Sie sind leise und demografisch in der Minderheit. Und selten präsent. Die Politik und der öffentliche Diskurs wird von alten weissen Männern und Frauen dominiert.

Ich gehe einig damit, dass einige 16- oder 17-Jährige mehr Interesse an Politik zeigen und besser informiert sind als andere. Das trifft aber auch auf 32- oder 54-Jährige zu. Den Aspekt, dass auch 90-Jährige über Belange abstimmen, die sie im besten Fall noch etwa zehn Jahre betreffen, finde ich problematischer als junge Menschen abstimmen und ihre Lebensrealität in die Politik einfliessen zu lassen.

Die Stimmbevölkerung entscheidet über sehr komplexe Themen und nicht selten setzen Menschen ihr Kreuz aus einem Gefühl heraus. Warum nicht aus dem Gefühl der Jugend? 

Und für beeinflussbar halte ich auch ältere Menschen, oder warum tragen alle Rentner*innen beige? Spass beiseite. Es gibt genügend Abstimmungen oder Wahlen, bei denen auch Erwachsene mit falschen oder beschönigenden Versprechungen zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten gebracht wurden. Ich denke da z. B. an den Brexit, um ein Beispiel aus dem Ausland zu nennen. Es stimmt schlicht nicht, dass nur Leute abstimmen, die super informiert sind. Oder hat die Mehrheit damals verstanden, was die Konzernverantwortungsintiative genau wollte? Die Stimmbevölkerung entscheidet über sehr komplexe Themen und nicht selten setzen Menschen ihr Kreuz aus einem Gefühl heraus. Warum nicht aus dem Gefühl der Jugend? 

Einen Zwang abzustimmen, gibt es ja ohnehin nicht. Wer sich nicht interessiert, wird weiterhin nicht wählen gehen, unabhängig vom Alter. 

Wo bleibt der Einfluss der Jungen? Sie sind ohnehin schon das Ziel von politischer Stimmungsmache.

Dass Abstimmungsentscheidungen jedoch sehr wohl eine Frage des Alters sein können, zeigt die aktuelle Diskussion um eine 13. AHV: Die Alten wollen die Zusatzrente eher als die Jungen, und erfahrungsgemäss stimmen die Älteren zahlreicher ab. Der Ausgang der Abstimmung scheint besiegelt. Von den Alten für die Alten. Nimmt man zu dieser Gleichung den demografischen Wandel hinzu, ist der Einfluss der älteren Generationen auch sonst immens.

Wo bleibt der Einfluss der Jungen? Sie sind ohnehin schon das Ziel von politischer Stimmungsmache. Oder warum ist die AfD in Deutschland so erfolgreich auf TikTok? Jugendliche sind so oder so politischen Inhalten ausgesetzt, auch durch Wahlplakate oder Filme. Manchmal merken sie es vielleicht gar nicht. Genau deshalb wäre eine fundierte politische Aufklärung in jungen Jahren so wichtig. Der Umgang mit Wahlwerbung sollte aus demokratischer Sicht mindestens genauso hoch gehängt werden wie der Umgang mit Smartphones und Social Media. 

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