Ehe für niemand: Warum überhaupt noch heiraten?
Hat die Institution Ehe nicht langsam ausgedient, in Zeiten von Polyamorie und Scheidungsquoten von circa 40 Prozent? Nein, finden sowohl die Genderforscherin wie auch die Pfarrerin.
In den Niederlanden können homosexuelle Paare seit 2001 heiraten. Und nun, 20 Jahre später, ist offenbar auch die Schweiz bereit dafür. Die Abstimmungsumfragen sagen ein Ja zur «Ehe für alle» voraus. Lesben und Schwule sollen die gleichen Rechte erhalten wie Heterosexuelle.
Doch will heutzutage überhaupt noch jemand heiraten? Hat die Institution Ehe nicht langsam ausgedient, in Zeiten von Polyamorie und Scheidungsquoten von circa 40 Prozent?
Das fragen wir Fleur Weibel. Die Grüne Basler Grossrätin setzt sich als Politikerin für die Annahme der «Ehe für Alle» ein. Als Soziologin und Genderforscherin hat sie sich eingehend mit dem Konzept Ehe auseinandergesetzt. Sie sagt: «Schwule, Lesben und heterosexuelle Menschen heiraten aus den gleichen drei Gründen.»
Es ist Liebe, Baby!
Die Liebeshormone vernebeln das Hirn, die ewige Liebe funkelt verheissungsvoll am Horizont, gemeinsam alt werden, lautet die Devise. Diese Verbindung will gebührend bestätigt und gefeiert werden. Oder wie Fleur Weibel sagt: «Menschen wollen mit diesem Schritt ein Statement setzen und ihrer emotionalen Verbundenheit Nachdruck verleihen.»
Es ist praktisch
Ehepartner*innen wollen sich gegenseitig absichern. «Oft heiraten Menschen aus praktischen Gründen», sagt Fleur Weibel. Paare, die nicht verheiratet sind, setzen sich einer Reihe bürokratischer und rechtlicher Nachteile aus – das fängt beim Besuchsrecht im Spital an und endet beim Erbrecht.
Es ist normal
Die Heirat bietet eine besondere Gelegenheit, die Verbindung vor dem sozialen Umfeld und der Gesellschaft zu bezeugen und als Liebespaar anerkannt zu werden. Dies ist im Fall von gleichgeschlechtlichen Paaren von besonderer Bedeutung, weil bei ihnen die Anerkennung als «normales» Hochzeitspaar nicht selbstverständlich gegeben ist, erklärt Weibel.
In der Theorie klingt das ziemlich nachvollziehbar. Aber wir wollten es genauer wissen und haben bei der Gärngschee-Community nachgefragt: Gibt es Menschen, die verheiratet sind? Wenn ja: Was hat euch dazu bewogen, euch das Ja-Wort zu geben?
Gärngschee-Mitglied Vanessa hat vor zwei Jahren «die Liebe ihres Lebens» geheiratet, wie sie sagt. Vanessa war sich ihrer Sache sicher, ihr Entschluss entsprang aber vielmehr aus der Angst davor, einander rechtlich nicht absichern zu können. So wie das ihren Eltern passiert war: Sie lebten dreissig Jahre im Konkubinat, erzählt Vanessa, und als der Vater vor fünfzehn Jahren starb, erhielt ihre Mutter keine Witwenrente. Vanessa und ihr Partner, die ausserdem ein Kind zusammen haben, wollen in allen Lebenssituationen für einander da sein können. Eine Heirat hat ihnen das ermöglicht.
Diese Möglichkeit wollen gleichgeschlechtliche Paare auch, sagt Fleur Weibel. «Für lesbische und schwule Paare geht es auch darum, das Recht auf Familie zu erhalten, das Recht gleichberechtigt für ein Kind verantwortlich sein zu können und füreinander.»
Deshalb findet Weibel die Ehe und Heirat auch nicht altmodisch oder konservativ. Vielmehr sei es ein Mittel zum Zweck. Und: «Die Ehe ist nicht statisch, sondern immer ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess». Dass nun über die «Ehe für Alle» abgestimmt wird, bewertet sie als wichtigen Schritt nach vorne. «Es ist fast schon ein revolutionärer Schritt», sagt sie.
Hä, wie jetzt? Revolutionär, nicht verspätet?
International schon, aber für Schweizer Verhältnisse nicht: «Nicht auf nationaler Ebene», sagt Weibel. Das Frauenstimmrecht wurde erst vor fünfzig Jahren angenommen, 1971. Und die patriarchale Ehedefinition erst um 1984 abgeschafft, als das revidierte Eherecht eingeführt wurde, das Mann und Frau neu als gleichgestellte Partner*innen definierte. Demgegenüber hat es vergleichsweise wenig Zeit gebraucht, bis die gleichgeschlechtliche Ehe ihren Weg in den breiten politischen Diskurs fand. «In einem konservativen Land wie der Schweiz, in dem das politische System träge ist, ist das bemerkenswert», sagt Weibel. Und die Chancen, dass die «Ehe für Alle» am 26.September durchkommt, stehen gut.
Bisher hatten gleichgeschlechtliche Paare die Möglichkeit, ihre Beziehung als Partnerschaft eintragen zu lassen. Ihnen ist es aber verboten, zu heiraten. Das soll sich mit der «Ehe für alle» ändern, über die die Schweizer*innen am 26. September abstimmen.
Rechtlich würde das für gleichgeschlechtliche Paare bedeuten, dass ihnen neu die selben Vorteile zustünden, wie sie bereits für heterosexuelle Ehepaare gelten: Die erleichterte Einbürgerung für ausländische Ehe-Partner*innen von Schweizer*innen, das Adoptionsrecht (dieses gilt in der eingetragenen Partnerschaft nur für die Kinder des*der Partner*in) und Samenspende auch für lesbische Paare, die bis dato für sie verboten war.
National- und Ständerat haben bereits im Dezember 2020 für die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt. Doch ein Komitee aus SVP- und EDU-Mitgliedern ergriff das Referendum. Und auch aus religiösen Kreisen, insbesondere Freikirchen, regte sich Widerstand. Die Hauptargumente der Gegner*innen: Die Bibel halte die Eheschliessung nur zwischen Mann und Frau fest, nicht aber zwischen gleichgeschlechtlichen Paaren.
Besonders emotional aufgeladen ist die Debatte um das Kindswohl. Die Gegner*innen halten am klassischen Elternmodell fest, dass aus einer Mutter und einem Vater bestehe. Es schade einem Kind, wenn es bei gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachse: «Es ist ein Unterschied, ob Kinder aufgrund der Lebensumstände auf ihren Vater verzichten müssen oder ob diese Umstände absichtlich herbeigeführt wurden», hält das Nein-Komittee fest.
Befürworter*innen dagegen verweisen auf wissenschaftliche Studien, die zu einem anderen Ergebnis kamen: Das Geschlecht der Eltern spielt für die Erziehung und das Wohl der Kinder kaum eine Rolle.
Unter dem Strich hat der Widerstand aus religiösen Kreisen in den letzten Jahren jedoch erstaunlich abgenommen. Die Basler Münsterpfarrerin, Caroline Schröder Field, etwa sagt: «Ich respektiere Menschen, die der ‹Ehe für alle› kritisch gegenüberstehen, und spreche ihnen ihren Zugang zur Bibel und ihren Glauben nicht ab». Sie selbst aber unterstützt die «Ehe für alle»: «Das Evangelium ist für alle da. Ich plädiere dafür, diese Menschen, Paare und Familien willkommen zu heissen und ihnen den Segen nicht zu verweigern», sagt sie.
Und Field ist keine Ausnahme: Die meisten Delegierten der evangelischen Kirche der Schweiz sind für die «Ehe für alle». Und auch die Position der katholischen Kirche war schon deutlicher. Während sich die Schweizerische Bischofskonferenz gegen die «Ehe für alle» ausspricht, empfiehlt der Schweizerische Katholische Frauenbund die Abstimmungsvorlage anzunehmen.
Sowieso: Das Ehemonopol liegt heute beim Staat. Der Segen in der Kirche hat keine rechtliche Verbindlichkeit, auch wenn er das Eheverständnis bis heute prägt.
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«Menschen heiraten, um sich verbindlich die Gemeinschaft zu erklären – vor Gott und vor der Öffentlichkeit», sagt die Pfarrerin. Moralische Ansprüche, der Wunsch nach Anerkennung und nach Gottes Hilfe, damit die ewigi Liebi gelingt – die christlichen Gründe unterscheiden sich in ihrem Sinn kaum vom weltlichen Eheverständnis und den Bedürfnisdimensionen, die Fleur Weibel skizziert.
«Die queere Community hat dieselben Bedürfnisse, sie sehnt sich nach dieser Gleichwertigkeit, auch vor Gott. Ich verstehe nicht, warum wir ihnen Gottes Hilfe beim Bund fürs Leben verweigern sollten», sagt Schröder Field.
Für die Pfarrerin ist die Auslegung und Interpretation der Bibel, die die Ehe zwischen Mann und Frau definiert, patriarchal und «nicht im Sinne des Erfinders», wie sie sagt. Nur die biblische Schöpfungsgeschichte zur Erklärung des Eheverständnisses heran zu ziehen, greife zu kurz und verkenne, dass die Ehe in ihrer rechtlichen und gesellschaftlichen Realität die wichtigste Stütze der patriarchalen Geschlechterordnung gewesen ist.
Vielmehr sei die Ehe das Glück, nicht mehr alleine zu sein, ein Vorgeschmack auf das Paradies. Und dieses Glück dürfe man niemandem vorenthalten.
Doch muss dieses Glück auf Zweierkisten beschränkt werden? Wäre es nicht Zeit, auch Lebensgemeinschaften fern vom Kleinfamilienmodell rechtlich abzusichern? Polyamore Beziehungen, etwa oder Lebensgemeinschaften zwischen Freundschaften?
Das ist wohl eine Diskussion für die nächsten 20 Jahre. Erst einmal stimmen wir über die «Ehe für alle» ab.
Münsterpfarrerin Caroline Schröder Field hielt in ihrer letzten Sonntags-Predigt ein Plädoyer für die «Ehe für alle». Bajour hat die Rede publiziert.