Scherbenhaufen 1. Mai
Im Vorfeld gab sie viel zu reden, diese 1.-Mai-Demo 2023. Am Tag der Arbeit dann zeichnete sich schnell ab: Auch im Nachhinein wird das, was heute passiert ist, für Diskussionen sorgen. Ein Demobericht.
Um Gleichstellung, mehr Lohn, mehr Rente hätte es heute an diesem 1. Mai gehen sollen. «Wir sind zuversichtlich, dass es ein friedlicher und bunter Mai wird», sagt Nicola Goepfert, Sprecher des 1. Mai-Komitees am Montagmorgen im De Wette-Park. «Wir stehen ein für bessere Arbeitsbedingungen und das ist dringend notwendig.»
Daraus wird in der Folge aber nichts. Oder zumindest nicht so, wie geplant.
Bereits im Vorfeld sorgte der Tag für intensive Debatten – allerdings nicht aufgrund dieser Forderungen, sondern wegen eines «Aktionskonsens», der unter anderem den so genannten «schwarzen Block» von der Demo hätte fernhalten sollen, der dann aber innerhalb des 1. Mai-Komitees doch kein Konsens war (Bajour berichtete). Heisst: Nun sollen doch alle zusammen an der Demo laufen.
Als sich Gewerkschaften, Parteien, Sans Papiers und weitere Organisationen im De Wette-Park versammeln – gemäss den Organisator*innen sind 3000 Personen ihrem Aufruf gefolgt – sieht es zunächst auch ein bisschen nach einem gemeinsamen Demotag aus. Verschiedentlich hört man, das Polizeiaufgebot erschrecke. In der Innenstadt stehen Spezialfahrzeuge mit aufklappbaren Gittern bereit, sogar ein Wasserwerferfahrzeug mit Luzerner Kennzeichen wird gesichtet. Ein Helikopter zieht seine Kreise.
Es ist kurz nach 10 Uhr, als der Demo-Zug langsam Form annimmt. Ein Transparent der revolutionären Bewegung («Der Kapitalismus zerstört die Welt. Revolutionäre Bewegung aufbauen!») liegt auf dem Boden, wo ein paar Minuten später die Demo losziehen soll. Reden werden gehalten. Dabei wird nicht nur auf Inhalte eingegangen – «wir wissen, eine andere Welt ist möglich», sondern auch gegen die Polizei skandiert.
Ein*e Redner*in sagt, «die Polizei hat schon mit Repressionen begonnen», es seien bereits 20 Personen kontrolliert worden. Und dann auch Kritik an die SP, die die Polizei «dazu eingeladen» habe.
Um 10.30 Uhr wird losmarschiert, pünktlich wie auch vom 1. Mai-Komitee vorgesehen. In einigen der vorderen Reihen haben sich Personen vermummt. Ziel der offiziellen, bewilligten Route wäre heute der Kasernenplatz gewesen. Aber es kommt alles anders: Schon nach wenigen Minuten durch die Elisabethenstrasse unterbricht die Polizei den Demo-Zug auf der Höhe des Klosterbergs und kesselt den vorderen Teil ein. Auf der Höhe Henric Petri-Strasse versperren Spezialfahrzeuge den Weg, auch neben der Elisabethenkirche und in Richtung Klosterberg: Polizei in Vollmontur. Die Demo ist von nun an zweigeteilt. Und das wird sie noch lange bleiben. Zunächst ist der Grund für das Eingreifen unklar. Dann kommuniziert die Polizei: Aufgrund von «vermummten und mit Schutzmaterial ausgerüsteten Gruppierungen an der Spitze» sei die Demo gestoppt worden. «Die Polizei bietet friedlichen Demonstrierenden an, eine alternative Route zu wählen.»
«Personen, die sich im Polizeikessel befinden und sich einer Personenkontrolle unterziehen lassen, können den Ort verlassen», twittert die Polizei. Es gibt Anweisungen durch den Lautsprecher, aber man versteht sie nicht immer. Darauf macht auch das Team der Demokratischen Jurist*innen aufmerksam, die im Vorfeld angekündigt hatten, die Demo zu beobachten und zu begleiten. Unverständnis ist ihnen auf die Gesichter geschrieben, selbst zu Tränen kam es. Auch bei anderen im Kessel herrscht Ratlosigkeit. Hier befindet sich nicht nur der Kern der Personen, der zuvor die Demo angeführt hatte, sondern auch diverse Personen von jung bis alt in bunten Regenjacken, Grossrät*innen und Journalist*innen. Plötzlich beginnt die Menge zu pfeifen, es kommt zu einem Gerangel und zu einem Pfefferspray-Einsatz seitens der Polizei. Den Grund dafür will diese erst nach Abschluss des Einsatzes kommunizieren.
Ausserhalb des Kessels steht 1. Mai-Komitee-Sprecher Lucien Robischon von der Unia. Er ist konsterniert. Die Polizei lasse den «friedlichen 1. Mai-Demo-Zug nicht weiterlaufen», die Gewerkschaften seien mit der Einsatzleitung im Gespräch und forderten diese dazu auf, «das sofort zu unterbinden.» Neben dem Kessel fährt ein Krankenwagen vor. Wie Robischon der Menge etwas später via Lautsprecher mitteilt, sei ein Mitglied der Unia nach einem Pfefferspray-Einsatz in die Notaufnahme gebracht worden.
Es wird nicht bei einem Pfefferspray-Einsatz bleiben. Die beissenden Schwaden liegen am Mittag in der Luft. Kurz nach 12 Uhr hört man es zwei Mal laut klöpfen. Etwas später nochmals. Die Polizei wird später sagen: Da mussten Zwangsmittel eingesetzt werden. Zudem bestätigt sie, dass eine Person ins Krankenhaus gebracht wurde, drei weitere seien vor Ort behandelt worden. Ausserdem sei auch ein Polizist leicht verletzt worden. Genaueres zu den «Mitteleinsätzen» sagt die Polizei am heutigen Tag nicht.
Das revolutionäre Klosterbergfest
Während die Demonstrant*innen im Kessel ausharren, wird auf der anderen Seite der Polizei-Barriere diskutiert, telefoniert, organisiert. Toya Krummenacher, Gewerkschaftssekretärin und SP-Grossrätin telefoniert mit dem Einsatzleiter der Polizei. «Wir hatten gar keine Möglichkeiten für einen konstruktiven Dialog», sagt sie enttäuscht in den Hörer. Sie hätte sich gewünscht, dass der Haupteinsatzleiter vor Ort komme, um mit den Organisator*innen der Demo über das weitere Vorgehen bezüglich Polizeikessel und Demoroute zu reden. «Aber das verweigerte er», kommentiert sie diesen Moment später. «Insgesamt hat sich die Polizei heute nicht kooperativ verhalten.»
«Wir waren mit dem Dialogteam konstant vor Ort und Frau Krummenacher hatte jederzeit die Möglichkeit, mit dem Dialogteam und der Einsatzleitung in Kontakt zu treten», kommentiert Polizeisprecher Adrian Plachesi später.
Die «alternative Route» welche die Polizei den Demonstrierenden ausserhalb des Kessels vorschlägt, kommt für diese offenbar nicht in Frage. Nach über zwei Stunden teilt das 1.-Mai-Komitee per Durchsage mit, man wolle sich mit den Eingekesselten solidarisch zeigen und das 1.-Mai-Fest statt auf dem Kasernenplatz hierher an den Klosterberg zum Polizeikessel verlegen.
In der Folge werden Reden für bessere Löhne gehalten, um 13.30 Uhr trifft Essen ein. Von aussen ist es schwierig, zu erkennen, was im Kessel vor sich geht. Danielle Kaufmann von den Demokratischen Jurist*innen kommt gegen 14 Uhr an die Polizeikette und berichtet: «Es sind noch immer Personen im Kessel, aber die Stimmung dort ist relativ ruhig.» Was sie «wirklich toll» findet, sei die Solidarität unter den Demonstrant*innen, die jetzt alle hier geblieben seien. Kurze Zeit später werfen diese Äpfel und Bananen über die Köpfe der Polizist*innen in den Kessel hinein.
Noch eine Stunde vergeht. Der Auftritt der Rapperin KimBo wird kurzerhand an die Elisabethenstrasse verlegt, und während um sie herum die Menschen zu tanzen beginnen, kommt auch hinter den Polizeireihen Bewegung in den Kessel. Die dort verbliebenen Personen werden einzeln aus der Gruppe zur Personenkontrolle geführt, manche werden an allen vieren getragen.
Kurz vor 17 Uhr ist der Kessel geleert. Plötzlich herrscht Aufbruchsstimmung, es wird gepfiffen und gejubelt: Nach über sechs Stunden Ausharren in der Elisabethenstrasse zieht die Demo weiter, nun angeführt von Gewerkschaften und dem Komitee.
Es sind weiterhin Hunderte Demonstrant*innen, die nun via Wettsteinbrücke und Rebgasse doch noch auf das Kasernenareal ziehen. Hier wird der Tross unter lauten Jubelrufen begrüsst. Die Stimmung ist entspannt, einge fallen sich in die Arme oder drücken Ankommenden ein Bier in die Hand.
Ein letztes Mal wenden sich Redner*innen an die Anwesenden. Der Tenor: Dieser 1. Mai war scheisse, aber wir sind stark und haben uns solidarisch gezeigt. Man müsse sich nun gut auf den feministischen Streik am 14. Juni vorbereiten, damit «so etwas wie heute» nicht noch einmal passiere.
«Sie wollten uns spalten, aber wir haben gut reagiert. Ich bin begeistert und müde und ich freue mich auf den 14. Juni», ruft Lucien Robischon von der Unia ins Mikrofon.
Auch die Leute auf der Kaserne sind müde. Sie sitzen auf dem Boden und hören zu, manche vielleicht nur noch mit halbem Ohr.
Später am Abend teilt die Polizei mit, 72 Demonstrant*innen seien mit einem Platzverweis belegt worden, «da sie sich trotz mehrfachen Aufrufs, dies freiwillig zu tun, der Kontrolle verweigerten und zugeführt werden mussten.» Insgesamt habe die Polizei vor und während der Demonstration 317 Personen kontrolliert und 22 Personen seien «für die Kontrolle» zur Wache gebracht und «vorübergehend in Gewahrsam genommen» worden.
Nach diesem Demo-Tag ist klar: In Basel wird wieder einmal über Verhältnismässigkeit und Demo-Verhalten diskutiert werden. Und über die Uneinigkeit der Linken.
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