Wer soll mitbestimmen?
2023 ist der Anteil der Stimmberechtigten im Kanton unter 51 Prozent gefallen. Ein demokratiepolitisches Problem, finden die einen – wer nicht will, der hat gehabt, sagen die andern.
Bald könnte Basel-Stadt der erste Kanton in der Schweiz sein, in dem seit der Einführung des Frauenstimmrechts wieder eine Minderheit über eine Mehrheit bestimmt. Auf diese Entwicklung macht Politikwissenschaftlerin Eva Gschwind in ihrem jüngsten Artikel auf der Plattform DeFacto aufmerksam. Letztes Jahr ist der Anteil Stimmberechtigter auf 50,5 Prozent gesunken – und er drohe unter die 50 Prozent Grenze zu fallen. «Ausgerechnet jener Kanton», schreibt Gschwind, «der stolz darauf ist, in der Deutschschweiz den Frauen als erster den Zugang zur Urne gewährt zu haben.»
Die Politikwissenschaftlerin sieht Diskussions- und Handlungsbedarf. Auf Anfrage sagt sie: «Die Idee der Demokratie ist, dass Entscheide von möglichst vielen Menschen mitgetragen werden.» Wenn viele Menschen von der Mitbestimmung ausgeschlossen sind, untergrabe dies die Legitimation des staatlichen Handelns, so die Schlussworte ihres Artikels. «Wer nicht mitbestimmen darf und sich nicht zugehörig fühlt, neigt dazu, sich von Politik und Gesellschaft abzuwenden.»
Derzeit laufen auf verschiedenen politischen Ebenen Bestrebungen, die Anzahl der Stimm- und Wahlberechtigten zu erhöhen. Die Aktion Vierviertel fordert mittels Initiative auf nationaler Ebene ein Grundrecht auf Einbürgerungen. Im Nationalrat ist ein Vorstoss der Grünen-Politikerin Sibel Arslan hängig, der sich für das Stimmrechtsalter 16 stark macht.
Auch der Basler Regierungsrat muss sich mit diesem Anliegen befassen und Riehen stimmt auf Gemeindeebene am 3. März darüber ab. Zudem gibt es Vorstösse zum Ausländer*innen-Stimmrecht von Edibe Gölgeli und dem Stimmrecht für Personen mit psychischer oder geistiger Beeinträchtigung von Oliver Thommen.
Fragt man bei den Basler Politiker*innen nach, wie sie den Abwärtstrend bei den Stimmberechtigten beurteilen, zeigen sich Gräben.
Die Zahlen zu den Stimberechtigten bringen zumindest den Mitte-Politiker und Riehener Gemeinderat Patrick Huber nicht aus der Ruhe. «Ich sehe derzeit keinen grossen Handlungsbedarf», findet er. «Wenn der Anteil der Stimmberechtigten so tief wäre, weil sich viele Ausländer*innen wegen strenger Kriterien nicht einbürgern könnten, müssten wir uns Gedanken machen.» Das sei aber nicht so. Huber lässt auch das Argument, dass die Schweiz eine restriktive Einbürgerungspolitik betreibt, und sich deshalb viele nicht einbürgern lassen, nicht gelten. Er räumt zwar ein, dass zum Beispiel die Wohnsitzpflicht «völlig überholt» sei. «Da könnte man von mir aus lockern und bei uns zum Beispiel sagen: Es reicht, wenn man über lange Zeit in der gleichen Region gewohnt hat, anstatt wie heute in der gleichen Gemeinde.»
In Basel-Stadt sei aber schon vieles vereinfacht worden, es sei «alles bereitgelegt»: «Wir haben die Gebühren mehrfach gesenkt und man braucht zum Beispiel auch nur Deutschkenntnisse auf Niveau A2, in Baselland ist es strenger, da braucht man B1.» Huber findet deshalb, es liege am Willen: «Es gibt einfach viele, die sich nicht einbürgern wollen, aus welchen Gründen auch immer.»
«Alarmgefühle», wie diejenigen, die wegen eines tiefen Anteils Stimmberechtigter die Demokratie in Gefahr sehen, habe er deshalb nicht, so der Mitte-Politiker. «Es ist wie bei der tiefen Stimmbeteiligung, auch das finde ich nicht so schlimm, schliesslich ist das ein Recht und keine Pflicht.» Und auch da zeige sich: «Wenn es die Leute direkt betrifft, wie zum Beispiel bei den Corona-Abstimmungen, dann gehen auch mehr an die Urne. Wenn das Stimmrecht nun für Ausländerinnen und Ausländer sehr wichtig wäre, würden sich auch mehr einbürgern lassen.»
Dennoch steht gerade in Hubers Heimat Riehen demnächst eine andere Möglichkeit zur Diskussion, die den Anteil der Stimmbürger*innen leicht erhöhen könnte: Eine Senkung des Stimm- und Wahlrechtalters auf 16 Jahre. 2014 hatte sich Huber, damals noch nicht Gemeinderat, genau für dieses Anliegen stark gemacht. Der Riehener Gemeinderat sprach sich in seinem Bericht an den Einwohnerrat nun aber dagegen aus. Huber möchte das Thema nicht weiter kommentieren. «Die Summe derjenigen, die dann mitbestimmen könnten, ist aber sicher viel kleiner als beim Ausländerstimmrecht», sagt er.
In einer Porträtserie hat Bajour letzten Herbst versucht, den Ausländer*innen, die schon lange hier leben, aber politisch nicht mitbestimmen dürfen, einen Platz im öffentlichen Diskurs rund um die Wahlen zu geben.
SVP-Grossrat und Parteipräsident Pascal Messerli lehnt eine Ausweitung des Stimmrechts gänzlich ab. Er sieht aufgrund des sinkenden Anteils Stimmberechtigter «keinen Handlungsbedarf», wie er auf Anfrage schreibt. «16-Jährige können abstimmen, sobald sie zivilrechtlich handlungsfähig sind, Ausländer können sich einbürgern lassen.»
Letzteres Argument lässt SP-Grossrätin Edibe Gölgeli nicht gelten. Aus ihrer Sicht liegt es nicht am Willen dieses Teils der Bevölkerung, sondern an der Politik. «Wenn wir mit unseren Nachbarländern vergleichen, haben wir extrem restriktive Ausländer- und Einbürgerungsgesetze. Vor dem Hintergrund von zahlreichen SVP-Initiativen und gesetzlichen Verschärfungen verstehe ich, dass sich Ausländer*innen immer weniger einbürgern lassen.»
«Wenn wir zunehmend eine Minderheit haben, die über eine Mehrheit bestimmt, ist das eine Gefahr für die Demokratie», findet sie. «Die Gefahr ist, dass sich bei solchen Mehrheitsverhältnissen immer weniger Leute in der Politik repräsentiert fühlen. Und das wiederum kann zu einer Politikverdrossenheit führen, diese Entwicklung sehen wir in der jüngeren Geschichte.» Gölgeli hat deshalb 2019 eine Motion eingereicht, die ein Stimmrecht für Ausländer*innen fordert. Das Geschäft liegt derzeit bei der zuständigen Kommission und soll noch dieses Jahr im Grossen Rat diskutiert werden.
Auf kantonaler Ebene hätten wir zwar bereits heute eine «ziemlich offene» Einbürgerungskultur, sagt Gölgeli, aber der Handlungsspielraum sei beschränkt. «Abgesehen davon, dass wir noch die Einbürgerungsgebühren ganz erlassen könnten, bleibt uns nur noch eine Ausweitung des Stimmrechts», sagt sie und verweist auf die Kantone Neuenburg und Jura, wo Ausländer*innen heute schon politisch mitbestimmen können. «Das ist keine Revolution», findet sie. «Mit einem Stimm- und Wahlrecht für Niedergelassene, für all jene, die hier Steuern zahlen, könnten wir aktiv etwas dafür tun, dass unser Kanton innovativ und unsere demokratischen Strukturen belebt bleiben.»
Auch die jgb-Grossrätin Fina Girard teilt die Einschätzung von Eva Gschwind: «Es gibt Handlungs- und Diskussionsbedarf», bekräftigt sie. «Als Gefahr für die Demokratie würde ich diese Entwicklung noch nicht beschreiben, so weit sind wir noch nicht. Aber wir stehen als Kanton in der Verantwortung, möglichst vielen Menschen eine Beteiligung an unserer Demokratie zu ermöglichen und deshalb würde ich jegliche Ausweitung des Wahl- und Stimmrechts begrüssen», sei es für Ausländer*innen, für Personen ab 16 Jahren oder für Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung.
Girard befürwortet deshalb die entsprechenden Motionen auf kantonaler Ebene. Zudem findet sie es wichtig, dass die Basler Bürgergemeinde nun ergründen will, weshalb sich viele Ausländer*innen nicht einbürgern lassen. «Da wissen wir schlicht zu wenig», sagt sie.
Dieser Meinung ist auch die Politikwissenschaftlerin Gschwind: «Wenn sich in einem Land mit rund 9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern über eine Million Menschen nicht einbürgern lässt, obwohl sie genügend lange hier sind, müssen wir erstens die Gründe besser kennen.»
Und zweitens müsse man über die Bedingungen für eine Einbürgerung sprechen. Es sei «nicht unbedingt» gerecht, dass Bund, Kantone und Gemeinden «noch (sehr unterschiedlich hohe) Einbürgerungsgebühren verlangen, obwohl wir die Menschen mindestens zehn Jahre warten lassen, bis sie mitbestimmen können, auch wenn sie zu unserem Wohlstand beitragen, Steuern und Sozialabgaben bezahlen», so Gschwind.
Schliesslich müssten wir uns grundsätzlich überlegen, «ob wir Menschen, die sich nicht einbürgern lassen – weil sie vielleicht dereinst in ihr Heimatland zurückwollen – nicht trotzdem ein Angebot der Mitbestimmung machen können, zumindest (wie es schweizweit schon über 600 Gemeinden kennen) auf kommunaler und kantonaler Ebene.» Die Politikwissenschaftlerin ist auch überzeugt, dass man das Interesse, sich einbürgern zu lassen, wecken könne. «Ich denke an spannende politische Bildung in der Schule, das Engagement von Parteien und Vereinen mit ‹kulturellen Brückenbauern›, ich denke aber auch an gute Werbekampagnen.» Diesbezüglich habe sie noch nicht «allzu viel Innovatives» gesehen. «Im Grundsatz geht es um die Frage, ob wir Stimmberechtigte bereit sind, den noch nicht Stimmberechtigten unser Interesse an ihnen zu signalisieren.»
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