Auf Raketenflug mit Daniel Graf
Der schweizweit bekannte Campaigner Daniel Graf hat vor gut einem Jahr erfahren, dass er ADHS hat. Sein politisches Engagement für eine inklusive Schweiz ist damit plötzlich auch ein persönliches.
Er war Parteisekretär der Grünen Zürich, dann Pressesprecher bei Amnesty International, bevor der heute 51-Jährige Daniel Graf mit seiner politischen Onlineplattform Wecollect, die er 2019 in die Stiftung für direkte Demokratie überführte, der Schweizer Bevölkerung ein Referendum nach dem anderen sowie zwei Volksinitiativen ermöglichte. Mit gutem Gewissen darf man den «Duracell-Demokraten», wie ihn die NZZ kürzlich nannte, als einen der bekanntesten Campaigner und einflussreichsten Polit-Aktivisten des Landes bezeichnen.
In seinem Headquarter im Stellwerk St. Johann trifft er Bajour zum Gespräch und spricht über etwas, das sein Leben auf den Kopf gestellt hat: Seine ADHS-Diagnose, die stark mit jener seines Sohnes zusammenhängt. Graf erklärt, wieso er seiner Neurodiversität etwas Positives abverlangen kann. Und wie es sich anfühlt, trotz vieler Privilegien zu einer Gruppe zu gehören, die sich bis heute oft versteckt, um nicht benachteiligt zu werden. Dabei spricht er wie immer in horrendem Tempo, kommt aber mehr als einmal zum Punkt. Eine Annäherung in acht kurzen Kapiteln.
Ein, zwei Diagnosen
Zweifel begleiteten Daniel Graf, als er vergangenes Jahr seinen Sohn auf ADHS (das steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) hat abklären lassen, als dieser «für Lehrpersonen anstrengend war, weil er andere Kinder gestört hat». Graf fragte sich: «Was passiert, wenn die Diagnose positiv ist, wie reagieren seine Mitschüler*innen und das Umfeld? Was heisst das für unsere Familie und für mich als Vater?»
Wegen der langen Wartezeit hiess es ohnehin erstmal: Geduld. In dieser Zeit nistete sich bei Graf eine Frage ein, die immer grösser wurde: «Könnte ich selbst auch ADHS haben?» Anders als sein Sohn hatte Graf die Freiheit, sich für oder gegen eine Diagnose zu entscheiden. Dabei war für ihn klar: «Ich kann nicht der Vater sein, der ich sein möchte, wenn ich nicht bereit bin, mich mit mir selbst auseinanderzusetzen.»
Gedanken hatte er sich zu ADHS davor nie gross gemacht, er wusste lediglich, dass es eine Entwicklungsverzögerung ist, die mit Medikamenten behandelt werden kann. Fälschlicherweise dachte er, sie beträfe nur Kinder. Dann wurde ihm der Podcast von Constantin Seibt, Mitgründer der Zeitung Die Republik, empfohlen, der autobiografisch über ADHS erzählt. Und nach drei Jogging-Runden im Kannenfeldpark, die Kopfhörer aufgesetzt, hat es vor gut einem Jahr, im August 2023, Klick gemacht: «That’s me!» Keine Erleuchtung, aber doch viel Klarheit.
Gemeinsam mit unseren Partnermedien Hauptstadt und Tsüri widmen wir uns diese Woche dem Thema ADHS, da die Diagnosen bei Kindern und Erwachsenen zunehmen. Es wird zwar mehr und transparenter darüber gesprochen als früher, dennoch bleibt Neurodiversität für viele ein Tabuthema. Drei Persönlichkeiten haben mit uns über ihre Diagnose gesprochen und darüber, wie diese ihr Leben verändert hat. Was bedeutet ADHS im Beruf und was im Privaten? Daniel Graf, Patrick Karpiczenko, von allen Karpi genannt, und Kafi Freitag geben Auskunft. Wir haben die drei zu einem Austausch am Mittwoch, 11. September, eingeladen. Hast du auch Fragen an sie? Dann maile uns gerne:
Klassenclown der Schule
Graf war während seiner Schulzeit Klassenclown, hatte Fights mit seinen Lehrer*innen und musste ganz alleine in der letzten Bankreihe sitzen: «Weil auch ich die anderen gestört habe.» Und er sagt: «Ich fühlte mich oft wie ein Alien.» Später im Studium wuchsen die Probleme: «Ich konnte keine Arbeiten mehr schreiben, hatte es nicht mehr im Griff. Keine Konzentration, kein Antrieb.» Und er fragte sich: «Bin ich depressiv?» Heute meint er dazu: «Ich war damals Opfer einer gutgemeinten Fehldiagnose.»
Die Erschöpfungsdepression dürfte lediglich eine Folgeerkrankung gewesen sein, das passiert oft. Graf erhielt von seiner damaligen Hausärztin Johanniskraut, das die Stimmungsschwankungen dämpfen sollte, Psychopharmaka war für ihn kein Thema. Er steigerte die Dosierung auf das Fünffache, bis er extrem licht- und kälteempfindlich wurde. «Der kalte Wind im Sommer schmerzte mich, in der Sonne verbrannte ich mir während einer Kanutour die Hände.» Dann entschied er sich doch für Psychopharmaka.
Zehn Jahre lang nahm er Antidepressiva. Er liess das Rezept jedes Jahr verlängern, weil er sich auf Beruf und Familie konzentrieren wollte. Bis er nahe an einem Burnout war und sich an der ersten Sitzung bei einer Psychiaterin entschieden hat, damit aufzuhören. Das war vor sechs Jahren.
Alkohol als Arbeitsdroge
Neben Psychopharmaka hat Graf einen weiteren Begleiter in seinem Leben gehabt: den Alkohol. Angefangen damit hat er, als er Vater wurde und sich abends gerne einen Drink gönnte, wenn die Kinder eingeschlafen waren. «Auch als Arbeitsdroge», wie er sagt, «um länger und besser zu arbeiten.» Seit gut einem Jahr trinkt er nichts mehr. «Vor dem Podcast von Constantin Seibt habe ich zufällig das Hörbuch Nüchtern. Über das Trinken und das Glück von Daniel Schreiber gehört. Das hat mir geholfen, von einem Tag auf den anderen mit dem Trinken aufzuhören. Zunächst für eine Woche. Danach habe ich einfach gar nicht mehr angefangen.» Er hatte für sich verstanden, dass Drogen und Alkohol ein Risiko sind.
Seine körperliche Gesundheit hat sich durch den Verzicht verändert. Er schläft besser und macht viel mehr Sport. «Heute spiele ich mit meinem Sohn wieder Fussball, mag wieder seggle.» Ist er nun süchtig nach Sport? Graf zuckt mit den Schultern: «Nein, aber auch wenn: Sport ist besser, Sport ist definitiv besser als Trinken.»
Heute joggt er drei bis vier Mal pro Woche früh morgens durch den Kannenfeldpark. Es sei die beste Zeit für ihn als Vater. Joggen ist eine Routine geworden – und Routinen sind etwas, das Menschen mit ADHS eigentlich gar nicht gerne haben. Mittlerweile hat Graf für sich aber erkannt: «Routinen geben mir die Freiheit, die ich so nie hatte.»
«License to drugs»
Die ADHS-Diagnosen von Graf und seinem Sohn folgten im Dezember 2023. Sie war keine Überraschung mehr, weder für den Vater noch für seinen Sohn: «Wir hatten es dann halt beide.» Sein Sohn sei von Anfang an in der Schule und im Freundeskreis viel offener mit dem Thema umgegangen als er selbst, insbesondere in Bezug auf die Medikamente. Diese waren für Graf eine wichtige Unterstützung, um sich selbst neu und anders wahrzunehmen.
Er erklärt, dass Menschen mit ADHS mit kleinen Dingen extrem viel Energie verbrauchen würden, Energie, die dann oft für Beziehungen oder für die Selbstfürsorge fehlt. Medikamente können hier helfen. Diese bekommt man nur mit einer Abklärung, die Diagnose ist quasi eine «License to drugs». Für Graf war klar: «Ich will das ausprobieren.»
Er wollte wissen, wie die Wirkung ist und zwar, bevor sein Sohn Medikamente selbst ausprobiert. Nicht weil Graf sich Sorgen machte, sondern um den Prozess besser und auf Augenhöhe zu begleiten. Das Spezielle: «Man muss sich durch die Medikamente regelrecht durchprobieren, es ist kein Wirkstoff wie Aspirin, das bei vielen Menschen gleich wirkt.» Auch die Dosierung muss erst eingestellt werden. «Ich weiss nicht, ob ich das perfekte Medi gefunden habe. Aber ich bin im Moment zufrieden.»
ADHS-Diagnosen bei Kindern und Erwachsenen nehmen zu – auch in Basel. Gleichzeitig fehlt es an Therapieplätzen sowie niederschwelligen Angeboten. Die Politik reagiert zögerlich.
Eltern werden und sein
Graf betont, wie wichtig die Diagnose für Betroffene sein kann. «Sie ist essentiell, hilft, etwas abzuklären, zu verstehen und sich Unterstützung zu organisieren.» Insbesondere, wenn man Eltern wird: «Im Vergleich zu den Schwierigkeiten während der Schule oder der Uni ist das Elternwerden gekoppelt mit ADHS Faktor 10.»
Seine Aussage ist auch eine Kritik an FDP-Parteipräsident Thierry Burkart, der im Tagesanzeiger sagte, dass «die vielen Abklärungen und Therapien zu einer Pathologisierung der Kinder führen.» Politiker*innen würden, statt die Versorgungskrise bei der psychischen Gesundheit für Kinder und Jugendliche anzugehen, das Thema «für Polit-Marketing in eigener Sache nutzen», findet Graf. Burkart war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.
Abklärung sei aber wichtig, um Verantwortung zu übernehmen, auch dafür, wie es anderen Menschen mit einem gehe. Dies sei nur möglich, wenn man sich selbst besser kenne, meint Graf.
Noch sei es zu früh, um sagen zu können, inwiefern sich das Familienleben durch die Diagnose verändert habe. «Vieles ist über die Jahre eingefahren, braucht Zeit.» Derzeit ist seine Familie daran, «das Verständnis zu schärfen, wie wir unterschiedlich mit Situationen umgehen». Routinen helfen auch hier, Graf nennt die Hausarbeit als Beispiel: «Ich schätze unseren Putzplan für Samstag. Denn ich weiss, wie wichtig Checklisten für die Kinder und mich sind.» Dabei betont er: «Man darf trotzdem noch floaten und kreativ sein.»
Bodennebel durchbrechen
Und kreativ ist Graf allemal. Auch ein Gespür für das richtige Timing scheint er zu haben. Er selbst bezeichnet sich augenzwinkernd als Raketenpilot, wer ihn auf Twitter kennt, weiss, dass ihn das kleine Icon seit Jahren begleitet: «Ich baue Raketen, liebe Projekte, die Schub erzeugen, die abheben.» Bereits bevor die eine Rakete fertig gebaut ist, spätestens aber während des Flugs, macht er bereits die nächste startklar.
Seine Raketen sind unsere Referenden oder Initiativen. Graf, der heute parteilos ist und sich als linksliberal bezeichnen würde, sammelt dafür mit seiner Onlineplattform WeCollect erfolgreich Unterschriften. Die Plattform ist quasi seine Startrampe: Knapp ein halbes Dutzend Referenden hat er und sein Team bereits aufgegleist. Nach der Gletscher-Initiative wurde am vergangenen Donnerstag auch seine zweite Volksinitiative eingereicht: Die Inklusions-Initiative, welche die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen auf die Prioritätenliste der Schweizer Politik setzt.
Das Leben nach dem Abschluss eines Projekts fiel Graf stets schwer. Zur Verbildlichung zitiert er den Arzt Heiner Lachenmeier, der in seinem Buch «Mit ADHS erfolgreich im Beruf» von Bodennebel spricht, den neurodivergente Menschen umgibt, während andere den blauen Himmel sehen. In diesem Bodennebel sei ihm alles schwer gefallen, die einfachsten Dinge wie E-Mails lesen, habe er kaum ausgehalten, während er in der Luft stets voll konzentriert sei. «In der Höhe, wo andere kribbelige Füsse bekommen, habe ich den Überblick.»
Dank den Routinen reisst der Bodennebel manchmal auf. «Dann schaffe ich es, auch meine private Post aufzumachen, pünktlich zu Terminen zu erscheinen und nicht nur To-Do-Listen zu schreiben, sondern sie auch abzuarbeiten.» Heute baut er nicht weniger Raketen, doch er baut sie nicht mehr immer sofort: «Ich brauche mehr Pausen – und Menschen, die mitfliegen.»
Im Cockpit für Inklusion
Eines der wichtigsten Projekte für Graf ist die Inklusions-Initiative. Es war der Zürcher Nationalrat Islam Alijaj – er sitzt im Rollstuhl –, der auf Graf zugekommen ist und ihn um Unterstützung gebeten hat. Graf steuert diese für ihn ganz spezielle Rakete also nicht selber, sondern fliegt im Cockpit mit. Als sie die Kampagne vor sechs Jahren gestartet haben, sah Graf sich noch nicht als Mensch mit Beeinträchtigung. Mittlerweile weiss er: «Das Wir und die Anderen stimmt nicht, die Grenze ist offen.»
Mit seiner ADHS-Diagnose setzt sich Graf als Vorstandsmitglied im Verein für eine inklusive Schweiz nun also für ein politisches Ziel ein, das ihn persönlich betrifft. Der gesellschaftliche Umgang mit Neurodiversität spielt für ihn plötzlich eine grosse Rolle. «Ich möchte nicht sagen, dass Neurodiversität und Behinderung das Gleiche sind, aber es gibt Erfahrungen, die sich überlappen und die meinen Blick geschärft haben.» Und Alijaj meint dazu: «Behinderung beschreibt nicht die Diagnose oder den Zustand einer Person, sondern die Barrieren, die Menschen im Alltag durch unzugängliche Strukturen und fehlende Unterstützung erfahren. Behinderung ist das, was behindert.»
Sich nicht verstecken
Im Unterschied zu Alijaj ist Graf frei, über seine Einschränkungen zu sprechen oder nicht. Das ist ein Grund für ihn, sichtbar zu sein: «Je kleiner eine Gruppe, desto einfacher ist es, sie auszuschliessen.» Deshalb: «Menschen, die wählen können, sollten, falls es die persönlichen Lebensumstände erlauben, sich nicht mehr verstecken, sei es im Beruf oder in der Öffentlichkeit.» Es sollte kein Risiko mehr sein, bei einem Bewerbungsgespräch transparent zu machen, dass man ADHS habe.
Natürlich hat auch Graf, der seit Mai im Bundeshaus als Lobbyist unterwegs ist, Sorge, dass er sich aufgrund seines ADHS-Outings, das er nicht als ein solches bezeichnen möchte, Sprüche anhören muss, die nicht so leicht wegzustecken sind. Gleichzeitig würde er sich freuen, wenn ihn Politiker*innen in der Wandelhalle anstupsen und sagen: «Hey, ich auch.» Denn bestimmt gibt es sie auch im Bundeshaus: Menschen, die neurodivergent sind, so wie Graf.