Verkennt die Politik den Ernst der Lage?
ADHS-Diagnosen bei Kindern und Erwachsenen nehmen zu – auch in Basel. Gleichzeitig fehlt es an Therapieplätzen sowie niederschwelligen Angeboten. Die Politik reagiert zögerlich.
«Ich kam in einen Raum mit anderen Eltern und es wurde rasch konkret, wir sprachen offen über Dinge, die sonst gerne verschwiegen werden», so beschreibt Daniel Graf sein erstes «Blinddate» mit der Eltern-Gruppe der Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK). Diese richtet sich an Eltern mit Kindern, die eine ADHS-Diagnose bekommen haben. Für den betroffenen Vater war dieser Austausch enorm wichtig.
Auf das Angebot aufmerksam gemacht wurde er von der diagnostizierenden Fachperson aber erst auf Nachfrage. Diese wollte ihn mit den Worten «Sie kommen wieder zu mir, wenn Sie ein Medikament für Ihr Kind haben wollen» schon verabschieden. Doch Graf, der vor der Entscheidung stand – Medikament für sein Kind: Ja oder Nein? – brauchte mehr. Etwas zwischen Diagnose und Medikation. Er brauchte Informationen: Welche Angebote für Beratung gibt es? Für den Alltag, die Familie und die Schule?
Eine Anmeldung für die besagte Eltern-Gruppe musste schnell erfolgen, denn das Angebot ist rasch ausgebucht. Auch in Basel erhalten Kinder erhalten immer öfter eine ADHS-Diagnose, bestätigt Anita Jung Strub, Fachstellenleiterin der ADHS-Organisation elpos in der Nordwestschweiz, gegenüber Bajour. Gerade bei Mädchen würden Verhaltensauffälligkeiten in Menge und Schwere zunehmen.
Eine Tragödie, ein Desaster
Gleichzeitig ist die Versorgungssituation im Allgemeinen schlecht. Es ist wohl kaum übertrieben, von einer Krise zu sprechen; die Wartefristen für eine Diagnose in Basel betragen derzeit sechs bis acht Monate. Und auch die Therapieplätze sind ausgebucht. Das ist insbesondere für Kinder, die meist ein bis zwei Jahre auf einen Platz warten müssen, schwierig. Jung Strub sagt: «Es ist eigentlich eine Tragödie und sollte gar nicht gehen.» Denn eine solche Zeitspanne fühlt sich im Kindesalter besonders lang an und hat einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes, die Schullaufbahn oder die Familie.
Die Versorgungskrise ist nicht neu, sie hat sich bereits vor der Pandemie abgezeichnet. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) veröffentlichte 2020 einen entsprechenden Bericht mit Fokus auf Basel-Stadt. Darin heisst es: «Bei der psychiatrisch-psychotherapeutischen Grundversorgung von Kindern und Jugendlichen wurde in der Schweiz in den vergangenen Jahren eine deutliche Fehl- und Unterversorgung festgestellt.»
Hat die Politik auf Kosten der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen versäumt, das Problem mit den nötigen Schritten anzugehen?
Während sich auf nationaler Ebene etwas tut – der Nationalrat hat erst kürzlich die Motion der Gesundheitskommission zur Versorgungssicherheit der Kinder- und Jugendpsychiatrie angenommen, um eine Strategie für ausreichend Therapieplätze zu entwickeln –, scheint in Basel die Situation festgefahren.
Von einem «Desaster» spricht beispielsweise die Basler SP-Grossrätin Melanie Nussbaumer. Lang ist die Liste an Vorstössen, die sie zum Thema Versorgungskrise eingereicht hat. Geschehen sei noch nichts. «Ich verliere langsam die Geduld», sagt sie. Ihr jüngster Vorstoss stammt aus diesem Juni, darin fordert sie mehr Ressourcen für Kinder und Jugendliche in einer Krise. «Wenn der Kanton nicht reagiert, zahlen die Kinder und Jugendlichen, deren Familien und das Umfeld einen hohen Preis», heisst es darin.
Auch die Geschäftsprüfungskommission (GPK) sorgte sich in ihrem jüngsten Bericht um die psychische Gesundheit der Jungen und erwartet, dass beim Erziehungsdepartement die Prävention gestärkt wird. Weil derzeit verschiedene Vorstösse hängig sind, verzichten die zuständigen Departemente auf eine vertieftere Einschätzung zur Situation gegenüber den Medien. Das Gesundheitsdepartement teilt lediglich mit, dass «im Kanton seit Jahren zahlreiche Präventionsprogramme laufen, um die psychische Gesundheit der Basler Bevölkerung zu stärken und die Bevölkerung für psychische Belastungen und Erkrankungen zu sensibilisieren».
Niederschwellige Angebote
Derweil sitzt Vater Graf im Gesundheitszentrum der UPK und versucht, gemeinsam mit den anderen Eltern, einen Stern mit Hilfe eines Taschenspiegels nachzuzeichnen. Schnell merkte er: «Was sonst einfach ist, funktioniert mit diesem Spiegel nur schwer und dazu viel langsamer.» Die von den Fachpersonen angeleitete Übung sollte aufzeigen, was es heisst, mit ADHS konfrontiert zu sein. So seien Anweisungen wie «Putz vor dem Schlafen die Zähne» oder «Pack alles in deinen Schulrucksack» für Kinder, deren Gehirn anders funktioniere, schwierig.
«Ich verliere langsam die Geduld.»Melanie Nussbaumer, SP-Grossrätin
Grafs Highlight der Eltern-Gruppe war der Austausch der individuellen Erfahrungen mit ADHS-Medikation. Für ihn war danach klar: «Es ist eine gute Entscheidung, es auszuprobieren.» Auch wenn Medikamente alleine nicht alle Schwierigkeiten lösen; zusätzlich müssen die Betroffenen ihr Leben verändern (mehr Sport, gesunde Ernährung) und die eigenen Verhaltensweisen sowie jene des Umfelds müssen angepasst werden.
Das niederschwellige Angebot der UPK ist nicht einzigartig. Auch das Basler Zentrum für ADHS, Unablenkbar, oder die ADHS-Organisation elpos bietet verschiedene Gesprächsgruppen an, auch für Erwachsene mit ADHS. Auch umstrittene Player versuchen angesichts der Versorgungskrise in die Bresche zu springen: So wollen auch Kirschblüten-Anhänger Betroffenen helfen.
Die Qualität und Seriosität der Angebote ist demnach zentral. Graf sagt: «Ich wünsche mir, dass es mehr niederschwellige Angebote der UPK und anderen Fachorganisationen für alle gibt, die diese Hilfe in Anspruch nehmen möchten.» Dafür müssten die Angebote aber auch bekannt gemacht werden, beispielsweise an Schulen.
Am Ende ist es auch eine Frage der Ressourcen. So sagt Charlotte Gwerder, stellvertretende Leiterin der Fachstelle Autismus an der UPK und zuständig für die oftmals ausgebuchten Eltern-Gruppe: «Man könnte immer noch mehr anbieten, aber wir haben begrenzte Ressourcen.» So ist die UPK nicht nur ADHS zuständig, sondern muss in der Region eine allgemeine Grundversorgung sicherstellen. Und: «Die Nachfrage nach therapeutischen Angeboten in der Kinder- und Jugenspsychiatrie ist in Basel wie im Rest der Schweiz markant angestiegen.» Die UPK planten deswegen ab Ende 2024 eine Frühinterventionstagesklinik.
Angst vor Nachahmungsverhalten
Häufigere Abklärungen beziehungsweise häufigere ADHS-Diagnosen sowie deren Folgen sind gesellschaftlich nicht unumstritten. Befürchtet wird ein Nachahmungsverhalten. Bereits heute wird von einem Hype gesprochen. Erst im April kritisierte die Sonntagszeitung den sogenannten Therapiekult und sprach von einer eingebildeten Krise. Dennoch ist Graf aus eigener Erfahrung überzeugt: «Mehr Abklärung führt dazu, dass Betroffene frühzeitig Hilfe erhalten und dass folgenschwere Entwicklungen, gerade bei Kindern und Jugendlichen, verhindert werden können.»
«Man könnte immer noch mehr anbieten, aber wir haben begrenzte Ressourcen.»Charlotte Gwerder, stellvertretende Leiterin der Fachstelle Autismus an der UPK
Mehr Abklärung löst das Problem allerdings nicht, sagt auch Michael Schneider, leitender Arzt an der UPK und Leiter der ADHS-Sprechstunden. «Je mehr Abklärung, je mehr Therapie.» Weil die Diagnose oft nicht die Lösung sei, sondern eben erst der Anfang, habe das eine grössere Nachfrage nach psychischer Betreuung zur Folge. Und: «Hier entsteht das Nadelöhr.» Seiner Meinung nach braucht es eine «bessere Abstimmung zwischen Pharmakotherapie und Psychotherapie». Sonst drohe eine weitere ungebremste Ausweitung der Verordnung für Stimulanzien, ähnlich wie in den USA.
Den Grund für die häufigeren Abklärungen sieht er in den Anforderungen der Gesellschaft. Diese passten oftmals nicht mehr zu den Fähigkeiten mancher Menschen; am Ende hätten dann jene Menschen mit sogenannten Verhaltensauffälligkeiten das Gefühl, sie seien das Problem. Auch verweist Schneider auf die Nutzung von Smartphones und Social Media. «In der ADHS-Diagnose können sich sehr viele Menschen wiederfinden», das erkläre auch die Popularität der Diagnose auf Social Media.
Am Ende, so findet Graf, «macht es einen grossen Unterschied, wie gut Betroffene und ihr Umfeld informiert sind. Auch über das Potential von Menschen mit ADHS.» Der Vater ist überzeugt, dass es mehr Menschen braucht, die offen über ADHS sprechen und falsche Vorstellungen aus dem Weg räumen. Die Eltern-Gruppe ist für ihn dafür ein Anfang. Ein «Safe Space». Deshalb wünscht er sich: «Mehr davon!»