Die Abgehängten an Bord holen

Auch die US-Wahlen zeigen: Die progressive Linke findet kein Mittel mehr, die zu erreichen, die sich wirtschaftlich zunehmend abgehängt und moralisch unterlegen fühlen: Männer. Ein Kommentar von Chefredaktorin Ina Bullwinkel.

Trump ist wieder da Kommentar
(Bild: Keystone (AP Photo/Julia Demaree Nikhinson)/Collage: Bajour)

Er ist wieder da und die Menschen, die Kamala Harris Erfolg gewünscht oder ihr die Stimme gegeben haben, sind geschockt. Wie ist Donald Trump dieses fulminante Comeback gelungen? Dass es ein knappes Rennen würde, haben die Umfragen vorher durchaus gezeigt. Wahrhaben, dass Trump wirklich gewinnen könnte, wollte in den liberalen Medien und linken Blasen kaum jemand. Der USA-Korrespondent der Woz vermutete noch in der Wahlnacht, Kamala Harris werde das Rennen machen. Es lag zumindest im Rahmen der Möglichkeiten bzw. des Wünschbaren.

Für die meisten liberal und demokratisch denkenden Bürger*innen nagt es am gesunden Menschenverstand, wenn ein verurteilter Straftäter, der die Demokratie mit Füssen tritt, Frauen belästigt, Fake News verbreitet und die Pressefreiheit für lästig hält, so viele Menschen erreicht. Der sexistische alte weisse Mann hat deutlich gewonnen. Nicht trotz seiner Eigenschaften, sondern dank ihnen. 

Das kann empören, darf aber nicht überraschen. Autokrat*innen sind auf dem Vormarsch. Einfache Wahrheiten verfangen. Viele Menschen, vor allem auch junge Männer, fühlen sich wirtschaftlich abgehängt und moralisch in der Defensive. Sie fühlen sich politisch nicht angesprochen von progressiven Frauen, die ihnen intellektuell und moralisch überlegen sind, sondern bedroht. Das zeigt nicht nur der US-Wahltag deutlich: Während junge Frauen eher links wählen, driften junge Männer weiter nach rechts.

Machos dürfen immer noch alles sagen, was sie wollen, aber sie werden dafür unter Umständen zurechtgewiesen oder gesellschaftlich isoliert. Wer damit nicht zurecht kommt, sehnt sich zurück an die vermeintlich «gute, alte Zeit».

Abgehängte wählen rechts. Das können wir in Ostdeutschland beobachten, in Italien, in Frankreich, bei der Europawahl. Das war bereits 2016 bei der Brexit-Abstimmung zu erkennen – wenige Monate bevor Trump zum ersten Mal Präsident wurde. Der Frust und die Enttäuschung, sich immer weniger leisten zu können, wenig zu verdienen und keine bezahlbare Wohnung im schönen Teil der Stadt zu finden, nicht mithalten zu können mit einem konsumorientierten, opulenten Lebensstil, der auf Instagram und Co. von Influencer*innen propagiert wird – das alles nährt die Unzufriedenheit und verletzt den Stolz.

Männer haben an Macht eingebüsst

Männer sind nicht mehr automatisch das Oberhaupt einer Familie oder die Brötchenverdiener. Sie entscheiden auch nicht mehr darüber, ob Frauen ein Konto eröffnen oder arbeiten gehen dürfen. In den vergangenen Jahrzehnten haben Männer an Macht und Selbstverständnis eingebüsst – zu Recht. Machos dürfen immer noch alles sagen, was sie wollen, aber sie werden dafür unter Umständen zurechtgewiesen oder gesellschaftlich isoliert. Wer damit nicht zurecht kommt, sehnt sich zurück an die vermeintlich «gute, alte Zeit», in der er unbehelligt Frauen, Homosexuelle, Ausländer*innen belästigen und unterdrücken konnte.

Menschen, die wenig Hoffnung und nur wenig zu verlieren haben, weil sie sich bereits als grosse Verlierer*innen fühlen, sind empfänglicher für einfache Botschaften, die eine*n Schuldige*n für die eigene Misere präsentieren. Bei Rechtspopulist*innen sind das Ausländer*innen, «Woke» und «die Grünen».

Die Linke kann nicht viel mit jenen anfangen kann, die weniger progressiv sind, konservative Werte vertreten und in anderen Realitäten leben als die akademisch ausgebildeten, urbanen Zentrumsbewohner*innen, die heute ihre Stammklientel ausmachen.

Und die Linke hat keinen Weg gefunden, gute Antworten auf die Vorwürfe und Probleme zu finden. Ihr fehlt inzwischen schlicht der Draht zu bestimmten Schichten, zu Andersdenkenden, zu Abgehängten oder zu denen mit den grössten Abstiegsängsten. Weil sie nicht viel mit jenen anfangen kann, die weniger progressiv sind, konservative Werte vertreten und in anderen Realitäten leben als die akademisch ausgebildeten, urbanen Zentrumsbewohner*innen, die heute ihre Stammklientel ausmachen. Diese Diskrepanz muss man anerkennen. Die Kaufkraft sinkt. Ein Hauskauf ist heute auch bei zwei Durchschnittsgehältern nicht mehr möglich. Bei unseren Grosseltern langte noch eins. Das wäre das eigentliche Thema der US-Demokrat*innen gewesen. It’s the economy, stupid.

Es geht um das eigene Stück vom Kuchen

«Trump will fix it» war einer der Maga-Slogans. Das ist alles, was die Leute wollen: Jemanden, der die Dinge wieder in Ordnung bringt. Was auch immer das heissen mag. Kamala Harris wurde das von der Mehrheit der Wählenden nicht zugetraut. Unter Joe Biden ist die Inflation massiv angestiegen – unter anderem wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine. Das haben die Menschen direkt im Portemonnaie gespürt und die Zweifel, dass die Democrats das auf die Reihe bekommen, konnte Harris nicht abschütteln.

Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Und moralisch hat man – zumindest als sich bedroht fühlender Mann – scheinbar eh wenig zu melden. Da kann man ein paar sexistische Sprüche, Gewaltandrohungen und eine Anstiftung zum Landfriedensbruch schon mal runterschlucken, wenn es um das eigene Stück vom Kuchen geht. Oder man findet sie sogar ganz gut. Endlich sagt’s mal einer.

Halten wir unsere demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte noch höher und hegen und pflegen sie.

Dass demokratische Grundpfeiler schneller bröckeln können als gedacht, zeigt sich in den USA, wenn rückwärtsgewandte, antiliberale Politik plötzlich wieder aktuell wird und vor langer Zeit erkämpfte Rechte infrage gestellt werden; wenn ein Schwangerschaftsabbruch in vielen Staaten unmöglich geworden ist; wenn Bürgerrechte eingeschränkt werden; wenn Journalist*innen gedroht wird und ländliche Regionen längst zu Zeitungswüsten geworden sind und lokale Politik und Wirtschaft ohne vierte Gewalt schalten und walten können; wenn ein gewählter Präsident ankündigt, Gerichte und Staatsanwält*innen entlang der eigenen Ideologie neu zu besetzen; wenn beide Kammern von der Partei des Präsidenten dominiert werden und die Gewaltenteilung nur noch politische Theorie ist.

Also, halten wir unsere demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte noch höher und hegen und pflegen sie. Dazu gehört es auch, die eigene Bubble auf ihre Offenheit und Vorurteile zu überprüfen und ehrlich zu sagen, ob man die Abgehängten bewusst abhängt. 

Das könnte dich auch interessieren

Elisabeth Schneider-Schneiter Ukraine

David Rutschmann am 06. Dezember 2024

«Uns allen geht es um die humanitäre Tradition»

Die Baselbieterin Elisabeth Schneider-Schneiter war eine der Ausscherer*innen aus der Mitte, die im Nationalrat die Verschärfung des Schutzstatus S möglich machten. Sie findet es richtig, den Sonderschutz auf die akuten Kriegsgebiete zu beschränken – und hofft, dass man damit die Zuwanderungspolemik der SVP bekämpfen kann.

Weiterlesen
Valerie Kommentar-1

Valerie Zaslawski am 02. Dezember 2024

Alle Parteien raus! Sie haben da nichts zu suchen

Das Stadtteilsekretariat Kleinbasel steht in der Kritik, zu links zu sein. Nachdem die bürgerlichen Parteien ihm bereits den Rücken gekehrt haben, sollten auch die linken ihre Rolle überdenken. Parteien haben andere Gremien, um mitzuwirken, kommentiert Valerie Zaslawski.

Weiterlesen
Luca Urgese Kolumne-1 (1)

Luca Urgese am 02. Dezember 2024

Weg mit der gelb-grünen Wand in der Innenstadt

Letztes Wochenende konnte in der Freien Strasse der Abschluss der vierjährigen Bauarbeiten gefeiert werden. Die Freie Strasse hat jetzt ein durchgehend modernes Strassenbild ohne Trottoirs. «Endlich!», findet FDP-Politiker Luca Urgese in seiner Kolumne.

Weiterlesen
Grossratswahlen 2020 Grüne Basta

Michelle Isler am 26. November 2024

Ade GAB!

Künftig gibt es im Grossen Rat eine linke Fraktion mehr: Basta und Grüne gehen ab der nächsten Legislatur getrennte Fraktionswege. Trennungsschmerz? Im Gegenteil.

Weiterlesen
Ina Bullwinkel Porträt

Das ist Ina (sie/ihr): Nach journalistischen Stationen u. a. in Bremen (Volontärin, Weser-Kurier) und Berlin (Redaktorin am Newsdesk, ntv.de) hat es Ina mitten in der Corona-Pandemie zu Bajour verschlagen. Dank Baseldytsch-Kurs hat sie sich schnell dem Dialekt der Einheimischen angenähert – ihre Mundart-Abenteuer hält sie regelmässig im Basel Briefing fest. Seit April 2023 ist Ina Chefredaktorin und im Wochenkommentar «Bullwinkels Blickwinkel» teilt sie einmal die Woche ihre Meinung zu aktuellen (meist politischen) Themen.

Kommentare

sumu
11. November 2024 um 08:30

Einseitig?

Auch hier werden Geschlechterthemen, die sich in der Nachbetrachtung vermutlich als weniger wichtig erwiesen haben als vermutet wurde, einer sehr einseitigen Betrachtung unterzogen. Der Kommentar geht davon aus, dass Männer alle Kritik nur aus Ressentiments und der Position verlorener Macht formulieren können. Das eine immer grössere Zahl der Männer die Kritik übt niemals über das Konto ihrer Frau bestimmt hat, niemals unbestrittener Chef der Familie war und und von einer Alleinernährer auch nie mehr träumen konnte, kommt Frau Bullwinkel nicht einmal in den Sinn. Geschweige denn, der Versuch entsprechende Positionen mal zu überdenken und in Frage zu stellen. Das Ausruhen auf der sanften Gewissheit des eignen Vorurteils scheint bequemer.

Daniel
08. November 2024 um 14:06

Geschlechterthema?

Der Artikel stellt das Geschlechterthema viel zu sehr in den Vordergrund. Die Neolinken, welche sich hauptsächlich in Hipsterkreisen bewegen, können sich schlichtweg nicht mehr vorstellen, wie sehr soziale Themen und der schlichte Mangel an Geld das Leben beherrschen können. Ich war in Seattle. Gefühlt geht die halbe Stadt im Drogensumpf jämmerlich zugrunde. Auf dem Uni-Hügel gleich oberhalb wird derweil diskutiert, ob es nun 13 oder 14 verschiedene Geschlechter geben soll. Mehr Kaltherzigkeit und Selbstbezogenheit geht wohl nicht. Meine Prognose: Solange sich die Linken weigern, der Mehrheitsgesellschaft gute Angebote zu machen und wieder prioritär Arbeitende und Angestellte zu vertreten, werden Populisten von Erfolg zu Erfolg eilen. Mehr Demut wäre dringend angesagt und weniger blinde moralische Selbsterhöhung. Wir brauchen keine selbsterklärten Hohenpriester, sondern Interessenvertreter für Geringverdienende. Schuster, zurück zu deinen Leisten!

Ruedi Basler
08. November 2024 um 11:12

Macho-Männer

Die Misere der Machomänner ist nachvollziehbar, aber nicht akzeptierbar. Ist das eine Frage der mangelnden Intelligenz, zuwenig Selbstbewusstsein, zu arrogant, Angst vor Veränderungen ? Dagegen ist wenig Kraut gewachsen. Wie auch immer : Es wird Zeit, dass auch solche Gruppen sich emanzipieren. Ansonsten stehen wir vor sehr schwarzen Zeiten.