«Spannung wie bei einem Fussball-Match»
«Eurovision ist die einzige gemeinsame europäische Popkultur, die wir haben», findet ESC-Fan Dionysis. Für die nichtbinäre Person wurde es einfacher, sich zu erklären, seit Nemo den ESC gewonnen hat. Die Vorfreude aufs Finale ist bei Dionysis gross.
Der Abend, an dem Nemo den Eurovision Song Contest gewann, war für Dionysis und Alicia ein bisschen chaotisch. Eigentlich ist es seit acht Jahren Tradition, dass die beiden Freund*innen gemeinsam das ESC-Finale schauen. Dionysis kam aber zu spät, weil ein Dogsitting-Termin dazwischen kam – und musste die Hälfte der Show auf dem Nachhauseweg auf dem Handy schauen. Und dann spoilerten sie sich auch noch bei der Punktevergabe selbst, weil sie aus Versehen den Livestream zur Sieger*innenehrung vorspulten: Nemo hatte gewonnen.
Nemos Sieg hatte weit über den ESC hinaus Strahlkraft, weil damit Nichtbinarität erstmals für eine breite Öffentlichkeit greifbar wurde. «Vor Nemo war das so: Wenn ich beispielsweise meinen Grosseltern erklären wollte, wie ich mein Geschlecht definiere, wurden das lange, philosophische Gespräche darüber, was Gender überhaupt ist», sagt Dionysis. «Aber seit letztem Jahr reagieren viele Leute einfach mit: ‹Also bist du wie Nemo.› Es gibt jetzt eine Schublade, in die man auch mich stecken kann.»
Das «grosse Outing» wie in Filmen hat es bei Dionysis sowieso nie gegeben. Schon als Kind wurde Dionysis auch teils männlich gelesen – «und mein Umfeld hat das dann immer mehr irritiert als mich selbst». Während Covid – als viel Zeit zur Selbstreflexion vorhanden war – begann Dionysis stärker zu hinterfragen, warum man eigentlich die Erwartungen erfüllen soll, welche die Gesellschaft an die eigene Rolle und das eigene Geschlecht hat. «Mir wurde klar, dass ich zu diesen Normen keine krasse Verbundenheit habe. Also habe ich mich davon gelöst.»
Vom Abend von Nemos Sieg gibt es ein Foto, das Dionysis beim Posieren mit dem Schweizer Pass zeigt. «Meine Eltern sind aus Afghanistan, ich bin eingebürgert. Mich hat das einfach stolz gemacht, dass der ESC in die Schweiz kommen wird», erzählt Dionysis. Erstmals wurde es für Dionysis und Alicia greifbar, vielleicht live beim ESC dabei sein zu können – «wir waren immer entweder Schüler*innen oder Student*innen und hatten nie das Geld, uns solche Reisen zu leisten», sagt Alicia. Wann hat man schon mal die Chance, mit dem Velo zum ESC zu fahren?
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Beide Freund*innen lieben Popkultur und tauschen sich seit der Sek darüber aus. Der ESC ist da keine Ausnahme – «es ist ja eigentlich die einzige gemeinsame europäische Popkultur, die wir haben», findet Dionysis. Die Musik, die Trends, die Stars – all das kommt entweder aus den USA oder bleibt in den Grenzen des eigenen Landes. Nur beim ESC sei es eben anders, so Dionysis. Viele Länder lassen ihre traditionelle Kultur in die Lieder einfliessen – «Ich finde auch schon lange, dass die Schweiz endlich mal Alphörner auf die Bühne holen müsste.» Und so findet man Musik, die man sonst nicht im Radio hören würde.
Alicia ergänzt, dass die Faszination für den ESC auch viel mit «Camp» zu tun habe. Der Begriff wurde von der LGBTIQ-Community geprägt. Grob gesagt beschreibt er eine Ästhetik, die übertrieben grell, überdramatisch, kitschig ist – und genau dafür gefeiert wird. Manche würden sagen: So schlecht, dass es schon wieder gut ist. Mexikanische Telenovelas. Balkan-Balladen. Trash-Horrorfilme. Oder eben der Eurovision Song Contest. «Es muss nicht alles billig sein, was keine hohe Kunst ist. Das Kunstverständnis wird manchmal zu ernst genommen», findet Alicia.
Mit mehreren Laptops haben die ESC-Super-Fans Alicia und Dionysis probiert, Tickets für die Liveshows zu bekommen. Doch wie viele andere, die von Schwierigkeiten beim Ticketbuchen berichteten, hatten auch die beiden Freund*innen kein Glück. Dionysis wollte das Glück aber weiter herausfordern und meldete sich bei allen Gewinnspielen an, bei denen man noch Finaltickets bekommen konnte – auch bei dem von Bajour und BaselAktuell/RegioAktuell. Die in Herzform angerichteten ESC-Cupcakes und das Schweiz-Outfit haben die Jury überzeugt, dass Dionysis die Tickets verdient hat.
Alicia wusste von alldem nichts und wurde nach Ostern mit den Tickets überrascht. Die Vorfreude ist mit dem Wissen, im Publikum zu sitzen, umso grösser. «Ich stelle mir den Vibe ganz speziell vor, wenn man live dabei ist», sagt Dionysis. «Es ist ja ein Wettbewerb unter Ländern und das Publikum fiebert mit einzelnen Acts mit. Das ist bestimmt anders als bei einem anderen Konzert: Es gibt dann Spannung in der Halle wie bei einem Fussball-Match.» Besonders gespannt sind die beiden Fans darauf, was man denn eigentlich in der Halle alles erleben wird, was man zu Hause am Fernseher nicht sieht.
In ihrer Vorbereitung auf die Show sind die beiden sehr unterschiedlich. Dionysis hat schon alle Songs im Vorfeld gehört: «Meine Favorites sind Espresso Macchiato und der Milkshake Man – wahrscheinlich werde ich für einen von beiden abstimmen, das habe ich in den Jahren vorher auch schon gemacht.» Alicia hingegen versucht, wie immer spoilerfrei das Finale zu schauen: Sie hört sich in der Regel keine der Songs im Vorfeld an, umd dann unvoreingenommen von den Performances überzeugen zu lassen: «Um den Schweizer Song bin ich dieses Jahr aber natürlich nicht drum herum gekommen.»
Die beiden hoffen, dass in Basel ein ESC-Hype entsteht. Vielleicht gibt es dann ja nächstes Jahr auch wieder grosse Public Viewings – und mehr Leute, mit denen die Freund*innen ihre Begeisterung teilen können.