«Hier wird es nicht besser, sondern schlimmer»
Diskussionen rund um die Drogenszene im Kleinbasel sind nicht neu. Für Anwohner*innen im Quartier ist die Situation aber gerade so akut, dass eine Petition gestartet wurde. Wie Massnahmen gegen die «ausufernde Drogenszene» aussehen könnten und was der Kanton bereits dagegen tut, hat Bajour zusammengestellt.
Im Matthäusquartier brodelt es: Das Dealen und Konsumieren von Drogen im öffentlichen Raum wird dort von den Anwohner*innen als Problem empfunden. Seit diesem Wochenende sammeln sie Unterschriften für eine Petition – aktuell sind bereits über 1340 zusammengekommen. Die Petition: «Kleinbasel: Unser Quartier dealerfrei!» wendet sich an die Petitionskommission des Grossen Rates sowie den Regierungsrat und fordert «Massnahmen gegen die ausufernde Drogenszene im Kleinbasel».
In unserer Frage des Tages wollten wir von unseren Leser*innen wissen, ob eine Toleranzzone für Dealer*innen die Lösung des Problems sein könnte. Mit 76 Prozent spricht sich eine Mehrheit klar dagegen aus. So auch der langjährige Basler Drogendelegierte Thomas Kessler, der zu Bajour sagt: «Ein Gebiet mit offizieller Duldung geht rechtsstaatlich und quartierpolitisch nicht, gesellschaftlich erträgliche Verhältnisse sind nur unter der Oberhand einer klaren staatlichen Strategie mit wirksamen Interventionsmöglichkeiten möglich.»
«Das Drogendealen ist illegal, entsprechend wäre es verkehrt, eine Toleranzgrenze für etwas Verbotenes einzuführen.»Laetitia Block, Vizepräsidentin der SVP Basel-Stadt
Auch Theres Wernli vom Stadtteilsekretariat Kleinbasel sagt: «Die Forderung nach einer Dealerzone unterstütze ich selbstverständlich nicht. Drogenhandel ist verboten. Kein Gemeinwesen kann solchen Forderungen nachkommen.» Und Laetitia Block, Vizepräsidentin der SVP Basel-Stadt schreibt: «Das Drogendealen ist illegal, entsprechend wäre es verkehrt, eine Toleranzgrenze für etwas Verbotenes einzuführen.»
Die Kritik an der Kleinbasler Drogenszene wird lauter. Seit diesem Wochenende sammeln Anwohner*innen Unterschriften für eine Petition. Sie fordern Massnahmen gegen das Dealen und Konsumieren von Drogen im öffentlichen Raum - auf Schulwegen, in Hauseingängen, in Vorgärten. Die Aggressivität habe zugenommen, schreiben die Initiant*innen. Konkret geht es um das Dreieck zwischen Claraplatz, Dreirosenbrücke und Matthäusplatz. Als Ausgehviertel, mit der Toleranzzone für Prostitution, der Partymeile am Rhein, verschiedensten Einrichtungen für Drogenabhängige und den baulichen Verdichtungen sei das Quartier belastet. Vorgeschlagen wird etwa eine Verlagerung der Szene. Konkret: eine Art Duldungszone ausserhalb des Wohnquartiers.
Braucht es Toleranzzonen für Dealer*innen?
Leserin Tosca Martino findet hingegen: «Eine Toleranzzone für Dealer? Die haben wir inoffiziell längst.» Martino meint damit die Klybeckstrasse zwischen Kaserne und Dreirosenbrücke.
Im Gespräch mit Horst Bühlmann von der Suchthilfe Region Basel stellt sich heraus: Eine Art Duldungszone ist heute schon Realität in der Kontakt- und Anlaufstelle (K+A): «Man kann die Rechnung nicht ohne Dealer*innen machen. Denn wo Drogen sind, gibt es Interessenten, und wo es Interessenten gibt, gibt es Verkäufer*innen. Ein K+A ohne Kleindeal würde nicht funktionieren, der Deal würde im Quartier stattfinden.» Bühlmann sagt: «Eine wie in der Petition geforderte Duldungszene ist rechtlich aktuell schwierig. Aber es gibt sicher einen Ermessensspielraum und es ist eine Frage der Vernunft.» Eine Duldungszone allein sei aber bei Weitem keine Lösung.
Während die Unterschriftensammlung für die Petition heiss läuft, ist das Thema bereits beim Basler Grossrat platziert. Michela Seggiani, Grossrätin SP Basel-Stadt, hat einen Vorstoss «betreffend Massnahmen zur Situation der Drogenszene im unteren Kleinbasel» eingereicht. Darin werden viele offene Fragen zur aktuellen Problematik gestellt.
Auch wenn wir (noch) nicht alle Antworten liefern können, versuchen wir im Folgenden, die Situation etwas einzuordnen.
Was sind die Gründe für die aktuell angespannte Situation im Matthäusquartier? Liegt es an veränderten Öffnungszeiten der K+A?
Horst Bühlmann sagt, dass die Öffnungszeiten der K+A am Riehenring und am Dreispitz stabil geblieben sind: «Wir haben in den letzten Jahren in der Regel bis 22 Uhr geöffnet, längere Abendöffnungen sind sehr lange her. Ohnehin seien längere Öffnungszeiten in der aktuellen Debatte nicht die erste Forderung, denn: «Diese müssen im Gesamtkontext Sinn machen und wollen schlussendlich bezahlt sein.» Längere Öffnungszeiten könnten zu einer Verbesserung beitragen, aber das Problem am Mätthäusplatz würde dadurch nicht gelöst. «Es braucht auch akzeptablen Wohnraum, Aufenthaltsräume oder Schlafraum, wo auch konsumiert werden kann.» Als neuere Entwicklung stellt er fest, dass heute mehr Kokain konsumiert wird, manchmal gemischt mit Heroin.
«Wie stellt man sich das vor? Da stehen die Dealer dann beim Flughafen draussen und die Drogensüchtigen sitzen brav im 50er Bus?»Horst Bühlmann zu Duldungszonen bei der Stadtgrenze
Die Idee einer offiziellen Toleranzzone für Dealer*innen klingt für Bühlmann an sich nicht schlecht, es stelle sich aber die Frage, wo diese – auch im Hinblick auf die Anwohner*innen – sein sollte. Und ob die Drogensüchtigen eine solche überhaupt akzeptieren würden. Auf die Frage von Bajour, ob man eine solche Duldungszone an die Stadtgrenze verlagern könnte, zum Beispiel in Richtung Flughafen, zeigt sich Bühlmann skeptisch: «Wie stellt man sich das vor? Da stehen die Dealer dann beim Flughafen draussen und die Drogensüchtigen sitzen brav im 50er Bus? Das funktioniert nicht. Die Suchtbetroffenen haben keine Geduld, um mit dem Konsum zu warten, bis sie wieder beim K+A wären, sie würden die Drogen vielleicht bereits im Bus konsumieren», sagt er.
Was ist mit der warmen Jahreszeit, spielt diese vielleicht auch eine Rolle? Sind Suchtbetroffene an Sommerabenden nicht einfach mehr im Quartier unterwegs als im Winter?
Bühlmann sagt zu Bajour, dass der Matthäusplatz schon seit vielen Jahren immer wieder ein Treffpunkt von Drogenkonsumierenden ist. «Die Anzahl Personen, die sich dort aufhalten und die Verweildauer sind generell grösser bzw. länger geworden». Gerade in diesem Sommer waren viele Suchtbetroffene auf dem Matthäusplatz, einige von ihnen sind obdachlos, anderen ist es in den Wohnungen bei hohen Temperaturen vielleicht schlicht zu warm geworden.
Und Corona?
Auch die Pandemie könnte einen Einfluss gehabt haben. Die Zahl der Menschen, die während und nach der Pandemie psychische Unterstützung benötigen, ist gestiegen. Gilt dies auch für die Anzahl Suchtbetroffener allgemein? Bühlmann sagt: «Ich kann sagen, dass wir in der K+A seit Corona nicht mehr Besucher*innen haben. Jedoch wurde festgestellt, dass neue und teils jüngere Konsument*innen kommen.»
Was ist mit den vielen Liegenschaften im Kleinbasel, ein günstiger Ort, um Drogensüchtige unterzubringen?
Theres Wernli vom Stadtteilsekretariat sagt zu Bajour, dass der Kanton wie auch soziale Einrichtungen in den vergangenen 25 Jahren eher in Vierteln wie Kleinbasel Liegenschaften erworben haben, da die Häuser dort bezahlbar seien. Dass Liegenschaften für Suchtbetroffene sich vor allem im Umfeld des Matthäusquartiers finden, sei aber keine Strategie. Anna Lüthi vom Gesundheitsdepartement sagt zu Bajour: «Der Kanton verfügt über ein «vielfältiges Angebot der Suchthilfen in den Säulen Prävention, Therapie und Beratung sowie der Schadensminimierung».
«Die aktuelle Entwicklung einer Szene im Kleinbasel ist nicht gesteuert und auf keinen Fall gewollt.»Anna Lüthi, Gesundheitsdepartement BS
Die Angebote und Institutionen seien über die gesamte Stadtfläche verteilt. «Die aktuelle Entwicklung einer Szene im Kleinbasel ist nicht gesteuert und auf keinen Fall gewollt», sagt Lüthi. Auch Lukas Ott, Leiter Kantons- und Stadtentwicklung, sagt zu Bajour: «Es ist nicht im Sinne der Stadtentwicklung, eine Drogenszene konzentriert in einem Quartier zu haben.»
Was aber kann man gegen die aktuelle Situation tun?
Thomas Kessler ist sich sicher: «Nur ein eng koordiniertes, alle Massnahmen umfassendes Vorgehen kann die Situation kurz- und mittelfristig entschärfen. Neben polizeilichen und sozialarbeiterischen Interventionen sind es die entlastenden Massnahmen der Gesundheitsbehörden, Stadtreinigung und Stadtgärtnerei. Die Lebensqualität im Quartier kann wiederhergestellt werden, wenn der öffentliche Raum intensiv kontrolliert und gepflegt wird.»
Ist die Polizei zurzeit ausreichend vor Ort?
Maurice Vogt, Küchenleiter bei der Gassenküche, sagt, dass sie im Austausch mit der Polizei seien und Schulungen haben. In der Gassenküche seien die Mitarbeiter*innen angehalten, die Polizei zu rufen, wenn jemand vor Ort aggressiv werde und andere Besucher*innen verbal oder tätlich angreife. Die Polizei käme von Fall zu Fall unterschiedlich schnell, meint Vogt: «Es kommt auf die Auslastung an. Zwischen drei und vierzig Minuten haben wir schon alles erlebt.» Die Polizei selbst bestätigt, dass «insbesondere das Community Policing in engem Austausch mit den verantwortlichen und beteiligten Stellen» stehe. «Aus polizeitaktischen Gründen» dürfe die Polizei jedoch keine genaueren Angaben zu Personaleinsätzen machen – Bajour liegen daher keine konkreten Zahlen seitens der Kantonspolizei vor.
«Hier wird es nicht besser, sondern schlimmer.»Langjähriger Anwohner des Matthäusquartiers
Ein langjähriger Anwohner, der den Matthäusplatz seit bald zwanzig Jahren im Blick hat, sagt uns bei einem Besuch, er könne die polizeiliche Präsenz bestätigen: «Die Polizei ist vor Ort, aber konkret kann diese auch nichts machen, weil die Leute ja nur den öffentlichen Raum nutzen». Und weiter: «Hier wird es nicht besser, sondern schlimmer.» Bühlmann vom K+A sagt: «Im Fall des Matthäusplatzes hat man vielleicht unterschätzt, was sich da entwickeln kann, es gab immer schon saisonale Unterschiede, was die Belastung des öffentlichen Raumes anbelangt. Es werden verschieden Faktoren gewesen sein, die zur aktuellen Situation geführt haben.» Weil sich heute die wenigsten Konsument*innen spritzen, entdecke man den Drogenkonsum weniger. Man könne konsumieren, ohne gross aufzufallen.
Klar ist: Es muss – im Sinne aller Beteiligten – etwas geschehen. Leserin Tosca Martino fragt: «Wo bleibt die Drogen-Taskforce?»
Diese sei aktuell nicht vorgesehen, meint der Basler Stadtentwickler Lukas Ott. SP-Grossrätin Michela Seggiani möchte sich mit ihrer Anfrage dafür einsetzen, dass «die Problematik konstruktiv und ohne Polemik behandelt und das Thema nicht nur von der SVP bewirtschaftet wird». Es solle zuerst eine Auslegeordnung gemacht und das 4-Säulenprinzip (Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression) umgesetzt werden. «Ich lebe selbst im Quartier und es ist mir ein Anliegen, dass wir das Thema ernst nehmen. Auch Präventionsarbeit ist ein grosses Thema, da der Bedarf an Drogen zurzeit ja offenbar sehr hoch ist», so Seggiani zu Bajour.
«Ich lebe selbst im Quartier und es ist mir ein Anliegen, dass wir das Thema ernst nehmen.»Michela Seggiani, Grossrätin SP Basel-Stadt
Und die Mittler*innen?
Lukas Ott sagt, im öffentlichen Raum werde aktuell mit Sozialarbeiter*innen gearbeitet. «Die Mittler im öffentlichen Raum sind zu unterschiedlichen Tages- und Nachtzeiten auf dem Matthäuskirchplatz und Umgebung unterwegs und suchen im Rahmen der aufsuchenden Sozialarbeit zu den Personengruppen das Gespräch, um auf die Regeln des Zusammenlebens im Quartier hinzuweisen und individuell Unterstützung anbieten zu können.»
Diese Massnahmen reichen offenbar nicht aus – die mehr als 1340 Unterschriften der Petition von Anwohner*innen sind ein klares Zeichen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes hiess es, es seien 1100 von den benötigten 2000 Unterschriften zusammengekommen. Für eine Petition gibt es jedoch keine mindest Unterschriftenzahl. 2000 Unterschriften braucht es einzig für die Einreichung eines Referendums. Für eine Volksinitiative sind es 3000 Unterschriften. Wir haben diese Angabe deshalb gestrichen.
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