Wie geht es Dir?

Heute jährt sich der Angriff der Hamas auf Israel. Es war eine Zeit voller Unsicherheit, Verzweiflung und Krieg. Wir haben Jüd*innen und Palästinenser*innen aus Basel vor einem Jahr und heute gefragt, wie es ihnen geht.

Vor einem Jahr, direkt im Anschluss an den Terror-Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, wollte Bajour von Basler Jüd*innen und Palästinenser*innen wissen, wie es Ihnen geht. Ein Jahr später haben wir nochmal mit ihnen geredet – über den Schock von damals, über Antisemitismus, muslimischen Rassismus und über die Frage: «Wie geht es Dir?»

Michal Lewkovicz
«Wir müssen lernen, mit anderen zu leben, wir müssen uns nicht lieben, aber miteinander kommunizieren.»
Michal Lewkowicz

Michal Lewkowicz

«Wie geht es Dir?» ist zu einer komplexen und herausfordernden Frage geworden. Die meisten Jüdinnen und Juden verspüren neben Kummer und tiefer Traurigkeit einen Mangel an Energie und Angst. Wie können wir ein neues Jahr einläuten, wenn immer noch 101 Geiseln gefangen gehalten werden? Wie können wir einen Monat voller Feiertage feiern, während wir immer noch trauern? Die Angst meine Heimat zu verlieren, ist nun noch realer als vor einem Jahr.

Für mich besteht der Umgang mit dieser unmöglichen Realität darin, mit meinen eigenen Möglichkeiten zu mehr Verständnis und Akzeptanz in unserer Gesellschaft beizutragen. Wir müssen lernen, mit anderen zu leben, wir müssen uns nicht lieben, aber miteinander kommunizieren. Dies ist eine Arbeit, die mir immer schon wichtig war und die jetzt beim Mizmorim Festival noch mehr im Vordergrund steht. In meinen Augen bekam der Ausdruck «Am Israel Chai», einer jüdischen Solidaritätshymne und eine Bekräftigung der Kontinuität des jüdischen Volkes, eine andere Bedeutung.

Nadia Guth Biasini
«Die Basler Jüdinnen und Juden fühlen sich seit 2024 wieder sicherer.»
Nadia Guth Biasini

Nadia Guth Biasini

Die aktuelle Situation in und um Israel belastet alle Jüdinnen und Juden. Seit einem Jahr sind Israels junge Frauen und Männer mobilisiert, worüber ich besorgt bin. Insgesamt ist der Schock des 7. Oktober Teil unseres Lebens geworden. Mit dem Leid der Familien der Opfer und der Geiseln fühle ich mich eng verbunden. Tatsächlich leben und lebten gerade in der Gaza Envelope (Gebiete im Südbezirk Israels) Familien, Männer und Frauen, auch ältere Personen, die besonders idealistisch sind und sich mit grossem Einsatz um das Zusammenleben mit der palästinensischen Bevölkerung bemühen. Wir alle hoffen, dass die 101 Geiseln nun endlich heimkehren können und die über hunderttausend Menschen, die im Oktober 2023 aus dem Norden Israels fliehen mussten – ihre Städte, Ortschaften und Kibbuzim stehen seit dem 8. Oktober 2023 unter Beschuss der Hizbollah im Libanon –, ebenfalls zurückkehren können.

Die Basler Jüdinnen und Juden fühlen sich seit 2024 wieder sicherer. Dass Parlament und Regierung die Sicherheitsmassnahmen des Jüdischen Museums der Schweiz seit diesem Jahr sehr grosszügig unterstützen und zudem regelmässige Kontakte pflegen, schätze ich als Präsidentin des Museums besonders. Dennoch bin ich sehr betroffen von den Besetzungen an der Uni. Israel und die Israelis, die ich bis zum 7. Oktober als äusserst aktiv, innovativ und freundlich erlebte, sind für mich sehr wichtig. Leider haben der furchtbare Überfall vom 7. Oktober und dessen Folgen nicht bloss Traumata hervorgerufen, sondern die politisch-gesellschaftliche Lage im Nahen Osten und weit über diesen hinaus stark verändert.

Josef Kalak
«Ich wünsche Frieden, Würde und Gerechtigkeit für mein vertriebenes Volk.»
Joseph Kalak

Josef Kalak

Die Situation ist sehr schwierig, denn der Krieg in Gaza entwickelt sich zu einem Problem für die ganze Welt. Ich habe wirklich Angst davor, dass sich der Krieg ausweiten wird, weil Israel die USA und Iran in den Krieg involvieren möchte. Die Kriegshandlungen im Libanon bereiten mir Sorgen. Ich habe mich immer in der interreligiösen Friedensarbeit engagiert, habe die Hoffnung aber langsam verloren. Denn die heutige israelische Regierung ist nicht an einem Frieden interessiert. Mit Siedlungsbau und Landraub erreicht man keinen Frieden.  Meine Geschwister und andere Verwandte leben in Palästina (besetztes Westjordanland) und wir sind immer in Kontakt untereinander, alle haben Angst. Ich bin in Palästina geboren und habe in Lausanne studiert. Anschliessend durfte ich nicht wieder in meine Heimat zurückkehren, weil ich kein Jude bin. Wenn man so ungerecht behandelt und man entwurzelt wird, dann fühlt man stark die Ungerechtigkeit und die Bereitschaft zum Widerstand ist gross. 

In der Schweiz fühle ich mich wohl und ich habe das Gefühl, dass viele meiner Freunde und die freien Menschen in der Welt erst jetzt so richtig begreifen, wie wir Palästinenser behandelt werden. Ich wünsche Frieden, Würde und Gerechtigkeit für mein vertriebenes Volk.

Der 7. Oktober 2023 und die Folgen

Am 7. Oktober 2023 hat die radikalislamische Terrorgruppe Hamas Israel vom Gazastreifen aus mit Raketen beschossen. Terroristen der Hamas drangen vom Gazastreifen in Südisrael ein. Sie ermordeten am 7. Oktober 2023 rund 1200 Menschen und nahmen über 240 Geiseln, von denen heute noch etwa 100 vermisst werden. Israel hat als Reaktion auf die Terrorattacke eine massive Militäroperation in Gaza begonnen. Seither dreht sich die Gewaltspirale immer schneller. Mittlerweile hat sich der Krieg in Nahost auf den Norden Israels und den Libanon ausgeweitet.

Gilbert Goldstein
«Dieser Krieg ist eine einzige Tragödie – nicht nur für uns und die israelischen Geiseln.»
Gilbert Goldstein

Gilbert Goldstein

Es sind schwere Tage, die ich im Moment erlebe. Gerade zu den jüdischen Feiertagen jährt sich der 7. Oktober und die Situation scheint aussichtslos. Vor einem Jahr habe ich gedacht, der Krieg würde höchstens drei Monate dauern. Nun zieht er sich schon ein Jahr hin und hat sich im Norden ausgeweitet. Die Hisbollah ist eine schreckliche Gefahr für Israel. Dieser Krieg ist eine einzige Tragödie – nicht nur für uns und die israelischen Geiseln, sondern auch für die Bevölkerung in Gaza und im Libanon. In Israel sind mindestens 60’000 Menschen zu Binnenflüchtlingen geworden. 

Seit dem 7. Oktober, an dem Israel das Opfer war, ist der Antisemitismus massiv gestiegen und das ist sehr beunruhigend. In Basel geht es mir recht gut, ich habe direkt keinen Antisemitismus zu spüren bekommen. Ich lese aber den ganzen Tag Zeitungen und die allgemeine Stimmung, auch in Deutschland, Frankreich und jetzt auch Österreich belastet mich sehr. Ein grosser Teil der Bevölkerung ist uns Juden nicht mehr wohlgesonnen und der Antisemitismus ist salonfähig geworden. 

Gehad Mazarweh
«Meine Überzeugung ist nach wie vor, dass ein Zusammenleben möglich sein muss.»
Gehad Mazarweh

Gehad Mazarweh

Es geht mir nicht gut. Vor einem Jahr habe ich gesagt, dass ich eine innere Zerrissenheit spüre, denn Israel ist meine Heimat und die Palästinenser sind meine Geschwister. Ich bin in Palästina gross geworden und ich hatte auch jüdische Freunde. Ich habe bis zu dem Moment gerne in Israel gelebt, in dem ich merkte, dass ich diese Diskriminierung nicht mehr ertrage. In Deutschland und in der Schweiz  war ich dann mehr als 40 Jahre aktiv in der Friedensbewegung – ohne jeglichen Erfolg, wie man heute sieht. 

Die Situation momentan ist so kompliziert und so dramatisch, dass ich am liebsten gar keine Nachrichten mehr hören würde, aber nicht anders kann, als mich rund um die Uhr zu informieren. Die Nachrichten schockieren mich. Ich habe mich mit den Ursachen von Traumata beschäftigt und mit sehr vielen traumatisierten Menschen gearbeitet. Das Schicksal der unschuldigen Kinder beunruhigt mich zutiefst. 

Meine Überzeugung ist nach wie vor, dass ein Zusammenleben möglich sein muss. Wir müssen zusammen leben können, auch nachdem es viele Tote und viel Zerstörung gab. Es gibt gar keine andere Lösung. Wir müssen versuchen, uns wieder anzunähern. Im Moment traue ich mich nicht, meine Freunde in Israel anzurufen, weil ich Angst vor schlimmen Nachrichten habe. Und ich fürchte mich am meisten, dass irgendein Politiker in der Welt versehentlich auf einen Knopf drückt und Atomwaffen zum Einsatz kommen. 

Silvia Jolodovsky
«Es geht mir im Moment gar nicht gut, weil ich keine Lösung sehe.»
Silvia Jolodovsky

Silvia Jolodovsky

Aufgrund der neuen Ereignisse im Libanon bin ich als Jüdin im Moment sehr beunruhigt. Ich habe Angst vor Reaktionen gegen Israel und fühle mich sehr schlecht, weil die Geiseln noch immer nicht befreit sind. Ich habe das Gefühl, dass der Krieg nicht so bald endet, weil niemand wirklich an einem Abkommen interessiert ist. Es geht mir im Moment gar nicht gut, weil ich keine Lösung sehe. 

In Basel habe ich persönlich noch keinen Antisemitismus zu spüren bekommen, aber ich sehe Nachrichten und informiere mich. Mich beunruhigt, dass Israel immer als Täter dargestellt wird und das Schicksal der Geiseln in den Hintergrund tritt. Ich merke, dass es kaum noch Sympathien für Israel gibt und das war noch vor einigen Jahren ganz anders. 

Aida Badeen
«Ich frage mich immer, warum die Welt zuschaut?»
Aida Badeen

Aida Badeen

Es geht mir schlecht. Ich trauere um jede Menschenseele, die getötet wird. Es gibt viel zu viele Opfer in diesem Krieg. Ich frage mich immer, warum die Welt zuschaut? 

Viele meinen, alles habe am 7. Oktober angefangen, aber für mich als Palästinenserin dauert das Leiden seit 1948. Ich bin in eine christliche Familie geboren, die  in einem kleinen Dorf im historischen Palästina (jetzt Israel) lebte und  1948 ein Massaker erlebt hat, an dem viele meiner Verwandten ermordet wurden. Die Einwohner wurden vertrieben. Mein Trauma aus der Kindheit wiederholt sich jetzt. Ich möchte, dass die Welt weiss: Wenn die Palästina-Frage nicht gelöst und nicht in Uno-Resolutionen verankert wird, wenn wir nicht als gleichwertige Menschen behandelt werden, dann wird es nie Frieden geben. Der Konflikt wird immer explodieren. 

Mir tut weh, dass die Welt das Leiden der Palästinenser nicht sehen will. Das ist für mich sehr schmerzvoll. Ich bin auf keiner Seite, bin nicht religiös, aber ich möchte, dass wir in Frieden gleichberechtigt miteinander leben können. 

In Basel geht es mir gut, ich finde aber sehr belastend, dass ich immer die palästinensische Frage und das Leid seit 1948 erklären muss. Für mich ist die Hamas ein Resultat jahrelanger Vertreibung und Unterdrückung und es trifft mich, dass viele Menschen das nicht verstehen.

Tarek Abu Hageb
Er gibt in diesem Jahr keine Auskunft mehr auf die Frage, wie es ihm geht.
Tarek Abu Hageb

Tarek Abu Hageb

Letztes Jahr haben wir mit Tarek Abu Hageb gesprochen, in diesem Jahr gibt er Bajour keine Auskunft mehr auf die Frage, wie es ihm geht. Er äussere sich nicht mehr öffentlich, heisst es auf Nachfrage. 

Bajour-Recherchen haben ergeben, dass ihm in seiner Funktion als Lehrperson nahegelegt worden sei, sich nicht mehr zur humanitären Situation in Gaza zu äussern und keine israelkritische Kunst und ebensolche Posts in den sozialen Medien zu zeigen. Dies bestätigt auch ein Facebook-Post von ihm.

Peter Bollag
«Ich bin beunruhigt, versuche aber, normal weiterzuleben, ohne immerzu an das Schlimmste zu denken.»
Peter Bollag

Peter Bollag

Ich habe gemischte Gefühle und weiss noch nicht genau, wie ich damit umgehe, dass es nun leider einen neuen, aktuellen jüdischen Gedenktag gibt, neben all den anderen bereits existierenden Gedenktagen. Insgesamt kann ich aber sagen, dass sich die Situation für mich im Vergleich zum letzten Jahr etwas entspannt hat. 

Vor einem Jahr war die Ungewissheit sehr gross, wir waren am 7. Oktober in Israel und wussten nicht, ob und wie wir wieder nach Basel kommen würden. Das kommt mir nun alles schon sehr weit weg vor. Ich bewege mich in Basel in einem recht geschützten interreligiösen Umfeld und daher fühle ich mich hier wohl. Mir ist aber bewusst, wie explosiv die Lage für Jüdinnen und Juden auch hier in Basel ist oder sein kann. Wir sind alle sehr aufmerksam und hoffen, dass die Situation auch jetzt zum Jahrestag nicht eskaliert. Zusammenfassend: Ich bin beunruhigt, versuche aber, normal weiterzuleben, ohne immerzu an das Schlimmste zu denken.

Nadim Badeen
«Ich wünsche mir aus ganzem Herzen langfristigen Frieden, bei dem alle Menschen die gleichen Rechte haben.»
Nadim Badeen

Nadim Badeen

Jeden Tag wird die Situation schlimmer, es gibt mehr Tote, mehr Zerstörung und der Weg zum Frieden kommt mir ferner vor denn je. Es ist sehr frustrierend für mich und das menschliche Leid ist kaum aushaltbar. Ich wünsche mir aus ganzem Herzen langfristigen Frieden, bei dem alle Menschen die gleichen Rechte haben und alle sicher leben können. 

Ich habe Angst, weil meine Familie, israelische Staatsbürger palästinensischer Herkunft, jeden Tag in Israel in den Luftschutzkeller müssen. Mein Göttikind lebt im Libanon, wir haben Freunde dort. Das Leid in der Region ist zum Alltag geworden und ich frage mich immer wieder, wie viele unschuldige Menschen noch sterben müssen, bis endlich Frieden herrscht. Die ganze Welt schaut zu und ich finde, es bräuchte endlich diplomatische Lösungen. 

Mir ist auch wichtig zu betonen, dass nicht alles nur schwarz und weiss ist. Ich habe jüdische Bekannte, die sich nicht mit der israelischen Regierung und deren Besatzungspolitik identifizieren können. Genauso wie ich als Palästinenser mich nicht mit der Hamas und deren Ideologie identifiziere. Ich spüre im Moment sehr viel Resignation, Ohnmacht und Trauer.

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

Kommentare

Christian Lupper
07. Oktober 2024 um 19:49

Konflikt

Kein Palästinenserführer wird je einen Zwei-Staatenvertrag unterschreiben. Damit würde er faktisch Israel als Staat anerkennen. Das würde kein Palästinenserführer lange überleben. Dafür würde auch der Iran sorgen. Daher ist das ganze Gerede von einer Zwei-Staatenlösung völlig unnötig.