«Unsere Geschichte gibt es auch»
Die Zustände in Israel sind erschütternd – auch für Palästinenser*innen. Menschen vor Ort, aber auch Angehörige leiden unter der Situation und das nicht erst seit dem Angriff der Hamas. Bajour hat bei der palästinensischen Community nachgefragt.
Tarek Abu Hageb, Basler Künstler
«Menschen, die in Israel wohnen und keine Jüd*innen sind, besitzen keine Rechte. Das ist frustrierend. Es ist eine sehr traurige Situation für alle Seiten und ich frage mich dann schon, wo die Flagge für Palästina weht? Egal woher wir kommen, wir werden in eine bestimmte Ecke gedrängt und es wird erwartet, Pro und Contra gegeneinander abzuwägen. Schliesslich sollte es doch darum gehen, dass wir fühlende Wesen sind, die nicht gespalten werden möchten.
Viele tausende Menschen sind schon gestorben und ich denke, es reicht! Wir müssen zu einem Abschluss finden, die Menschen brauchen Ruhe, damit sie sich auch endlich entfalten können.
Ich verstehe, dass nun die Fahne Israels beim Rathaus hängt. Aber als Mensch, der in Basel geboren wurde und deutsch-palästinensische Wurzeln hat, finde ich das nicht mutig, sondern traurig. Es gibt nun solche, die sich daran bereichern und für mich drückt es die Haltung aus: Zahn um Zahn oder Auge um Auge. Wir sollten beiden Staaten ein Symbol für Hoffnung geben und ein Vorbild für unsere Nachkommen sein.»
Gehad Mazarweh, palästinensischer Psychoanalytiker
«Für mich ist es eine Zerrissenheit. Israel ist meine Heimat und meine Familie lebt dort. Ich bin Palästinenser und wenn ich an die Zustände in Israel denke, dann gerate ich in Panik. Ich habe wenige wirklich gute Freunde, aber die meisten von ihnen sind gerade dort – in diesem wirklich sinnlosen Krieg gefangen. Ohne eine grundlegende Lösung des Palästina-Problems, werden wir nie Frieden haben.
Ich liebe meine Heimat und auch andere Palästinenser und Palästinenserinnen lieben ihre Heimat. Aber so wie die Situation jetzt ist, funktioniert es nicht. Wir brauchen eine Heimat – unsere Heimat. Aber auch die jüdische Bevölkerung braucht eine Heimat.
Ich bin Analyst und schon lange in der Friedensbewegung unterwegs. Wenn wir wirklich Frieden wollen, dann müssen wir eine gemeinsame Lösung finden. Wenn wir nicht reden, dann werden wir zugrunde gehen. Ganz wichtig ist aber, dass sich die Grossmächte raushalten. Die palästinensische Gemeinschaft und die jüdische Gemeinschaft müssen gemeinsam das Problem angehen. Ich bin davon überzeugt, dass wir zueinander finden können, aber nur, wenn sich die anderen raushalten. Wenn nicht, dann gibt es nur Verlierer.
Momentan haben Palästinenser*innen in Israel wenig Rechte und das geht nicht. Wir müssen akzeptiert werden. Ich werde weiterhin für den Frieden arbeiten, auch wenn ich müde bin. Politisch möchte ich nicht einschlafen. Israel ist meine Heimat und dort habe ich meine Brüder und Schwestern. Wir wollen gemeinsam und friedlich in Menschenwürde leben.»
Rula Badeen
«Die momentane Situation macht mir sehr zu schaffen. Überall sehen wir die israelischen Flaggen, aber der lange Kontext dahinter wird nicht abgebildet. Damit ist man nicht automatisch solidarisch. Wenn wir die palästinensische Fahne zeigen, dann werden wir verurteilt, aber unsere Geschichte gibt es auch. Wir sind nicht für Gewalt. Palästinenser*innen leiden seit Jahren unter der Unterdrückung. Eine einfache Lösung für den Konflikt gibt es nicht, aber Hoffnung eben auch nicht.
Europa hat es versäumt, sich der Palästina-Frage zu stellen. Viele trauen sich nicht mehr, etwas dazu zu sagen, weil sie gleich mit Antisemitismus in Verbindung gebracht werden.
Die Palästinenser*innen leben in zwei Realitäten: Eine ist demokratisch und die andere ohne Rechte. Wenn man für Menschenrechte und einen echten Frieden ist, dann kann man die Geschichte und das Leid der Palästinenser*innen nicht verleugnen und tabuisieren.»
Nadim Badeen, Sozialarbeiter und ausgebildeter Psychologe
«Mir geht es gerade sehr schlecht und die Situation nimmt mich sehr mit. Ich versuche zu funktionieren, aber eigentlich bin ich immer geistig abwesend. Zum Teil auch gerade wegen der Berichterstattung, die ich sehr einseitig empfinde. Das verletzt mich. Man bekommt das Gefühl, dass der Nahostkonflikt erst gerade begonnen hat, aber das stimmt nicht. Der grosse Kontext fehlt.
Beide Seiten wollen und müssen gehört werden. Es ist wie eine Treppe: Jede Stufe muss einzeln beschritten werden – man kann keine Stufe überspringen –, damit wir langfristig Frieden erreichen.
Ich fühle mich gerade wie ein herumlaufendes Feindbild. Dieses Schwarz-Weiss-Denken stört mich sehr. Es ist eine komplizierte Situation, aber gerade deswegen ist es wichtig, sich zu informieren. Beide Völker haben Bedürfnisse und diese müssen gehört werden. Es herrscht nicht automatisch Frieden, nur wenn es gerade keinen Krieg gibt.
Mein grosser Herzenswunsch ist, dass Frieden und Ruhe einkehren.»
Samir Kalak, Gymnasiallehrer für Wirtschaft und Recht (Wirtschaftsstudium an der HSG)
«Vor einigen Jahren besuchte ich Haifa, eine Stadt in Israel/Palästina, und erlebte dort eine erfreuliche Begegnung: Ich sass mit meinem Cousin und anderen Arabern und Juden gemeinsam in einer Bar und wir genossen die Zeit miteinander. Dies zeigte mir, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist, unabhängig von der jeweiligen Religion und Herkunft. Auch meine Grosseltern, die in Palästina in der Stadt Ramla lebten, hatten jüdische Nachbarn, mit denen sie befreundet waren, und es gab nie Probleme.
Der Nahostkonflikt ist nicht neu und wird weitergehen, solange die Ungerechtigkeit anhält. Die Zukunft der Palästinenser erscheint perspektivlos. Ein inhumanes System begünstigt Gewalt und Radikalität. Es überrascht mich deshalb nicht, dass es jetzt zu Kriegen gekommen ist, da die Wut seit Jahren am Brodeln war und nun explodiert ist, weil die Menschen in Freiheit leben wollen.
Drei Generationen sind herangewachsen und kennen nichts anderes als Besatzung und die fortschreitende Ausdehnung der Siedlungen. Meine Verwandten in der Westbank können sich nicht frei bewegen und sind täglich Demütigungen und Willkür ausgesetzt.
Das Problem des Westens besteht meiner Ansicht nach darin, dass er Missstände oft nur dann wahrnimmt, wenn sie in sein Weltbild passen und seinen geopolitischen Interessen entsprechen. In anderen Fällen schaut man einfach weg oder verschliesst die Augen. Das Leiden der Palästinenser findet leider oft wenig Beachtung.
Europa und die USA tragen eine Mitverantwortung. Diese aktuelle unglaubliche Tragödie muss daher als Gelegenheit genutzt werden, um Europa und die USA aufzuwecken und alles dafür zu tun, einen Frieden herbeizuführen. Die gegenwärtige Entwicklung im Nahen Osten bedroht den Weltfrieden. Gegen Russland wurden Sanktionen verhängt, aber niemand denkt daran, denselben Massstab an Israel anzulegen. Wir brauchen einen Schritt in Richtung Frieden. Die Palästinenser haben das Recht wie jedes andere Volk in Frieden und Freiheit zu leben.»
Anmerkung der Redaktion: Bei der ersten Veröffentlichung fehlten die Perspektiven von Nadim Badeen und Samir Kalak. Sie wurde nachträglich hinzugefügt.
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