Das grosse Brötchen-Pilgern
Für die Grättimänner der Konditorei Gilgen stehen Basler*innen genauso Schlange wie für das Gipfeli und das Brot bei den lokalen Bäckereien: Was hat es mit dieser Bereitschaft zur Geduld in Zeiten der Beschleunigung auf sich?
Ein grünes Absperrband und eine Türsteherin kündigen es Ende November an: Es gibt wieder Grättimänner beim Gilgen. Der Spalenberg füllt sich unter anderem ihretwegen jeweils Ende Jahr mit einer langen Schlange an Menschen, die auf die begehrten Leckereien warten. So sehr, dass an den Wochenenden während der Hochsaison ein*e Türsteher*in und ein Absperrband für Ordnung sorgen müssen.
Mit Warteschlangen kennt sich auch die Bäckerei Kult aus. Soeben eine grosse Backstube am Voltaplatz eröffnet, kennt man hier auch die Enge: Eine zweite kleine Bäckerei befindet sich an der Riehentorstrasse. Dort stehen die Menschen rund ums Jahr teilweise weit auf das Trottoir hinaus an.
Als wäre es das Ziel einer Sternwanderung, pilgert die Kundschaft aus allen Richtungen mit leeren Rucksäcken und Taschen zum Laden und reiht sich nach einem Blick ins Schaufenster hinten ein. Einige kommen mit dem Velo, ein Mann parkiert seinen schwarzen Mercedes im Halteverbot – alles fürs Sonntagsgebäck.
Auch die Sauerteigbäckerei bread.love mit Laden am Blumenrain kennt das Phänomen. Bei ihnen bilden sich Schlangen meistens freitag- und samstagmorgens und vor allem vor Feiertagen, erzählt Gründer Christian Aeby: «Die Leute stellen sich sehr geduldig an und sind fast alle extrem wohlwollend.»
In Zeiten der Automatisierung, der Prozessoptimierung, der Beschleunigung und der Gewohnheit, alles auf Knopfdruck zur Verfügung zu haben, haben die Basler*innen offenbar Gluscht auf Handgemachtes von lokalen Betrieben und sind bereit, dafür nicht nur tief in die Tasche zu greifen, sondern auch eine Weile auszuharren. Was steckt dahinter?
«Es ist so, als würdest du in die eigene Stube heimkommen.»Jessica Luongo, Gilgen-Kundin
Alexander Moser, Geschäftsleiter der Holzofenbäckerei Bio Andreas, vermutet, dass es eine «Sehnsucht nach Authentizität und Qualität widerspiegelt». Er glaubt: «Gerade in Zeiten der Automatisierung schätzen viele Menschen das echte Handwerk und die Geschichten hinter den Produkten.» Ähnlich antwortet Aeby: «Weil es so gemacht wird und schmeckt wie früher, in der Kindheit oder bei der Grossmutter, weiss man wieder, wo man ist und wo man hingehört.»
Das Familiäre gefällt auch Gilgen-Kundin Jessica Luongo, die Ende November in der Schlange vor der Konditorei wartet. Sie schätze es, persönlich begrüsst zu werden. Es sei so, «als würdest du in die eigene Stube heimkommen». Und das Gebäck der Konditorei am Spalenberg sei «einfach das beste. Es ist nicht brösmelig wie beim Detailhändler, die Schoggiweggli sind nicht trocken», schwärmt sie.
Der Familienbetrieb setzt bewusst auf Qualität und Tradition, denn dafür gebe es eine Wertschätzung, sagt Andrea Kuhn-Gilgen, die die Konditorei in dritter Generation führen wird. «Es schliessen immer mehr, wie etwa die Bäckerei Krebs, das ist ein emotionaler Verlust», sagt sie.
Der Luxus der Zeit
Qualität erfordere viel Know-How, sagt Claudia Vernocchi, Vizedirektorin und Kommunikationsverantwortliche vom Schweizerischen Bäcker-Confiseurmeister-Verband. «Viele Leute hatten in der Covid-Phase versucht, selber Sauerteigbrot zu backen und festgestellt, wie anspruchsvoll das ist», sagt sie.
Ebenso ausschlaggebend sei die zeitliche Komponente: «Gute Bäckereien und Confiserien wenden viel Zeit auf für die Gärung des Teiges. Das macht Brot einerseits bekömmlicher, andererseits kommt das Aroma dadurch viel besser zur Geltung.»
Die Bäckerei Kult arbeitet primär mit Sauerteig und nur mit wenig Hefe, sagt Lea Gessler. Letztere übertöne die subtileren Brot-Aromen. Die Mitgründerin der Bäckerei sieht zwar, dass in der Industrie das Wissen über Brot auch immer stärker genutzt werde. «Aber trotzdem ist es einfach ineffizient einen Teig lange zu lagern», sagt sie. «Den Luxus, die Körbchen lange liegen zu lassen, nehmen wir uns raus. Das schlägt sich dann eben auch im Preis nieder.» Grosser Aufwand, hochwertige Zutaten und lokale Rohstoffe sind Anliegen, welche die angefragten Bäckereien und Konditoreien einen. Ebenso der Fokus auf Nachhaltigkeit.
Gemäss dem Schweizerischen Bäcker-Confiseurmeister-Verband geht rund ein Viertel der Brote und Backwaren durch die Backstuben von «Artisanal»-Bäckereien und Konfiserien, der Rest kommt vom Grossverteiler und Tankstellenshops. Claudia Vernocchi spricht von einer Zweiteilung der Gesellschaft: «Die einen kaufen möglichst preisgünstig ein, die anderen schätzen die handwerkliche Arbeit.»
«Ich bin eigentlich sehr effizient unterwegs, aber es hat etwas Meditatives, hier anzustehen.»Dirk Schaefer, Kult-Kunde
Gessler von der Bäckerei Kult hingegen denkt, dass alle in gewissen Bereichen stärker auf Qualität achten, als in anderen. Dennoch beobachte sie seit etwa zehn Jahren den Trend, «dass mehr Menschen ihre Prioritäten beim Brot und Gebäck setzen», sagt sie und begründet: «Ich glaube, das hat mit der Magie des Brotes zu tun: Wie aus einer Pflanze auf dem Feld letztlich etwas wird, das so eine riesige symbolische, historische und auch religiöse Bedeutung hat für unsere westliche Kultur.»
Und dafür nehmen die Kund*innen die Wartezeit gerne in Kauf. So wie Dirk Schaefer aus dem Wettsteinquartier: Er kommt gerne am Wochenende an der Riehentorstrasse vorbei – und stört sich nicht, wenn es mal etwas länger geht. Er komme dabei zur Ruhe: «Ich bin eigentlich sehr effizient unterwegs, aber es hat etwas Meditatives, hier anzustehen», sagt er, während er eingepackt in Winterjacke und Mütze darauf wartet, seinem Rhybolle und den Gipfeli näher zu kommen.