Was macht die Stawa da?

Sibel Arslan wollte am Feministischen Streik 2020 zwischen Aktivist*innen und Polizei vermitteln. Nun wirft ihr die Justiz vor, sie habe selbst an der unbewilligten Demo teilgenommen. Was ist an diesem Tag geschehen? Bajour war dabei.

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Die Immunität von Nationalrätin Sibel Arslan soll aufgehoben werden. Warum, ist nicht ganz klar. (Bild: Keystone-SDA)

Am 14. Juni 2020 gab es in Basel zwei Arten von Demos: fünf bewilligte und eine unbewilligte. Fünf endeten friedlich, eine eskalierte. 

Sibel Arslan, Nationalrätin der BastA!, nahm an diesem Nachmittag eigentlich an einer polizeilich bewilligten Aktion auf dem Theaterplatz teil. Doch dann erhielt sie ein Telefon von Demonstrant*innen: Die unbewilligte Demo sei eskaliert, sie solle bitte zwischen Aktivist*innen und Polizei vermitteln. Was Arslan auch tat. 

Dieser Schlichtungsversuch könnte Arslan nun zum Verhängnis werden. Der Blick machte gestern publik, dass die Basler Staatsanwaltschaft einen Antrag gestellt hat, um die Immunität der Nationalrätin aufzuheben. Vorgeworfen werden ihr unter anderem Verstösse gegen die Covid-Verordnung und die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration. 

Die Staatsanwaltschaft äussert sich mit Verweis auf das Amtsgeheimnis nicht zum Fall und auch Arslan selbst möchte nichts bis zur Anhörung sagen. Sie bestätigt jedoch, dass sie am 7. September vor der nationalrätlichen Immunitätskommission Stellung nehmen wird. 

Was ist am Frauenstreiktag geschehen? 

Das einzige Medium, das damals vor Ort ist und die Ereignisse aus der Nähe schildert, ist Bajour. Die beiden Journalistinnen Andrea Fopp und Adelina Gashi haben protokolliert, was passiert ist. Wir publizieren hier noch einmal die Auszüge aus dem Protokoll (kursive Schrift), die zeigen, wie das war mit Sibel Arslan an der Demo.

Die Ausgangslage ist die folgende: 

Um etwa 15.30 Uhr blockiert eine Gruppe von Demonstrant*innen die Mittlere Brücke. Ohne Bewilligung. Die Polizei berichtet von etwa 300 Personen. Die Trams und Busse können nicht mehr durch. Polizist*innen fordern sie auf, die Brücke zu verlassen. Die Demonstrant*innen tun das und ziehen weiter Richtung Spital. Im Blumenrain stösst Bajour-Reporterin Adelina Gashi dazu. Vor dem Spital bleibt der Umzug stehen und klatscht für das Pflegepersonal, dann gehen die Protestteilnehmer*innen weiter in Richtung St.Johanns-Vorstadt. Die Reporterin zählt etwa 100 Leute. Als der Demonstrationszug kurz vor 17 Uhr auf der Johanniterbrücke ist, kommen Polizist*innen von beiden Seiten entgegen gerannt und kesseln diese mit Absperrband und Kastenwagen ein. Ohne Durchsage. Eine der Demonstrant*innen sagt: «Kommt Leute, wir lösen die Demo auf.» Aber da kommen die Polizist*innen und nehmen Leute mit. Die Demonstrant*innen können nicht mehr weg. Also stehen sie zusammen und singen «Bella ciao» und andere Protestsongs. Es ist drückend schwül, der Asphalt heiss. 

Sibel Arslan befindet sich zu der Zeit auf dem Theaterplatz an einer bewilligten Aktion. Sie bekommt einen Anruf. Demonstrant*innen bitten sie, auf die Johanniterbrücke zu kommen und zwischen ihnen und der Polizei zu vermitteln. Das kriegt Bajour-Reporterin Andrea Fopp mit, die auch auf dem Theaterplatz ist.

Arslan schreibt eine Kurznachricht an Justizdirektor Baschi Dürr und informiert ihn, dass die Demonstrant*innen auf der Brücke die Demo auflösen wollen, aber wegen der Polizei nicht können. Dürr antwortet nicht, also fährt Arslan mit dem Velo zur Brücke. Bajour-Journalistin Andrea Fopp begleitet sie.

Vor dem Chez Donati bei der Johanniterbrücke steht ein Polizist mit einem Motorrad vor dem Absperrband. Als Arslan dem Polizisten erklärt, sie wolle vermitteln, ruft er den Einsatzleiter an und Sibel Arlsan wird unter dem Absperrband durchgelassen. Andrea Fopp, die unmittelbar daneben steht und als Journalistin über die Geschehnisse berichten möchte, wird nicht durchgelassen – Pressefreiheit hin oder her. 

Auf der anderen Seite steht jedoch Adelina Gashi, die mit dem Demonstrationszug eingekesselt wurde. Sie ist dabei als Sibel Arslan mit den Demonstrant*innen spricht. Sie gibt wieder, was passiert: 

Die Nationalrätin stellt sich vor die Demonstrant*innen, erhält ein Megaphon und sagt ruhig: «Wir finden einen Kompromiss, gemeinsam. Was sind eure Forderungen?» Ihr Ziel sei, dass sich die Demonstration friedlich auflöst, sagt sie.

«Wir wollen gehen. Ohne Kontrollen, ohne Bussen», ruft eine der Demonstrant*innen Arslan entgegen. 

«Das geht nicht», sagt Arslan, «es wird Kontrollen geben.» Ihr Vorschlag: Es gibt Bussen, aber keine Anzeigen und Verhaftungen. So geht es hin und her. Arslan redet mit den Demonstrant*innen, dann mit den Polizist*innen.

Die Bajour-Journalistinnen machen ein Foto von Arslan, wie sie vor dem Absperrband der Polizei steht und mit den Demonstrant*innen spricht. Auf dem Foto ist Arslan nicht aktiv am Demonstrationszug beteiligt.

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Sibel Arslan spricht mit den Demonstrant*innen und bleibt hinter der Absperrung. (Bild: Bajour)
Warum wäre die Immunitätsaufhebung überhaupt nötig?

Nationale Politiker*innen geniessen gemäss Bundesgesetz eine absolute und eine relative Immunität, dies um das Funktionieren der Bundesbehörden zu garantieren. Die absolute Immunität kann nicht aufgehoben werden und betrifft Äusserungen in den Räten und Kommissionen und schützt vor strafrechtlicher und ziviler Verfolgung. Die relative Immunität schützt Handlungen im unmittelbaren Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit und Stellung und kann aufgehoben werden. Um letztere geht es bei Sibel Arslan. 

Die Immunität für Politiker*innen sei ein sehr altes Rechtsinstitut, erklärt Markus Schefer, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Basel: «Es stammt aus dem englischen Recht des 17. Jahrhunderts. Damals ging es darum, Parlamentsmitglieder vor der Verfolgung durch die englische Krone zu schützen und ihre Amtstätigkeit zu ermöglichen, dazu gehörte auch, dass sie sich im Amt frei äussern durften». Dieses Prinzip sei auch im Schweizer Recht verankert: «Dabei geht es nicht um eine Privilegierung von Parlamentarierinnen und Parlamentariern», erklärt Schefer, «sondern darum, ihre freie Amtstätigkeit zu schützen». Die Frage bei Sibel Arslan, die auch die Immunitätskommission beantworten muss, sei demnach: Hängt ihr Verhalten während der Ereignisse vom 14. Juni 2020 mit ihrem Mandat als Nationalrätin unmittelbar zusammen? 

Mit der Immunität müsse man zurückhaltend umgehen, sagt Markus Schefer weiter, «sie ist kein Freifahrtschein», auch Politiker*innen müssten das Gesetz achten. Wie weit die Immunität geht oder eben nicht, zeigt das Beispiel vom ehemaligen SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer, der sich wegen ehrverletzenden Aussagen in einem Zeitungskommentar vor Gericht verantworten musste: National- und Ständerat entzogen dem Politiker die parlamentarische Immunität für diesen Fall.

Arslan bietet den Demonstrant*innen an, ihren Umzugswagen mit den Transparenten und dem Megaphon mitzunehmen. Damit niemand als «federführend» von der Polizei aufgegriffen werden kann. Den Wagen hinter sich herziehend, läuft sie davon. 

Die Demonstrant*innen bleiben auf der Brücke zurück und skandieren weiter ihre Parolen. Sie schreien den Polizist*innen zu: «Ihr seid das Patriarchat, ihr seid das Problem. Scheiss Machos, scheiss Muskelprotze.» Einer der Polizisten flext demonstrativ seinen Bizeps. 

Kurze Zeit später ist Arslan zurück. Die Polizei verbietet ihr, den Wagen mitzunehmen. «Lasst uns nochmal besprechen, wie wir vorgehen», setzt Arslan an. Dicht hinter ihr stehen Polizist*innen in Vollmontur. Plötzlich greifen sie nach Demonstrant*innen, um sie abzuführen. 

Die Szene wird auf Video aufgenommen. Bajour ist im Besitz der Aufnahmen, auf welchen ersichtlich ist, wie der Verhandlungsversuch von Sibel Arslan durch die Polizei unterbrochen wird.

Im Bajour-Protokoll von damals heisst es: 

Die Frauen* beginnen zu schreien, es kommt zu einem Handgemenge. «Hört auf», ruft Arslan den Polizist*innen zu, «ich verhandle mit ihnen». Doch Arslan kommt nicht mehr dazu auszureden. Die Polizisten nehmen sie links und rechts am Arm. «Fasst mich nicht an, lasst mich los», sagt sie. Aber sie führen die Nationalrätin ab. Dann sagen die Polizist*innen zu den Demonstrant*innen: «Jetzt gilt unser Tarif.»

Bajour fragte die Polizei noch am selben Abend, weshalb sie Sibel Arslan weggeführt habe. Der damalige Polizeisprecher antwortete: 

«Einzelne Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich geweigert, sich kontrollieren zu lassen und mussten deshalb von Polizistinnen und Polizisten den Kontrollen zugeführt werden. In einer solchen dynamischen Situation haben Polizisten Frau Nationalrätin Arslan von den zu Kontrollierenden einige Meter weggeführt. Sie wurde weder verhaftet noch gebüsst.»

Folgende Fragen bleiben offen:

  1. Warum will die Staatsanwaltschaft Sibel Arslan für die Teilnahme an einer unbewilligten Demo belangen, nachdem die Polizei sie als Vermittlerin mitten in den Demonstrationszug gelassen und weder verhaftet noch gebüsst hatte? Die Staatsanwaltschaft sagt nichts dazu.
  2. Ist es verhältnismässig, die Immunität einer Politikerin aufgrund einer Demonstration aufzuheben? Wir haben diese Frage Staatrechtsprofessor Schefer gestellt. Dieser konnte sie aufgrund fehlender Kenntnisse der Sachlage nicht beantworten.
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Bei Bajour als: Redaktorin

Hier weil: Lokaljournalismus ein Zukunftsmodell ist und wir es den Grossen zeigen werden

Davor: Hier und da als Freie, dann in die Lehre bei der SRF Rundschau und später lange bei der Schaffhauser AZ

Kann: Dinge herausfinden

Kann nicht: sie wieder vergessen

Liebt an Basel: Am frühen Morgen im Drämmli sitzen und der Stadt zusehen, wie sie aufwacht.

Vermisst in Basel: muss ich noch herausfinden.

Interessensbindungen: 

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  • Im Verwaltungsrat der Schaffhauser AZ
Adelina Gashi

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Vermisst in Basel: Das Meer

Foto Pino Covino

Bei Bajour als: Journalistin.

Hier weil: Das Hobby meines Mannes finanziert sich nicht von alleine.

Davor: Chefredaktorin im Lokalmedium meines ❤️-ens (Bajour), TagesWoche (selig), Gesundheitstipp und Basler Zeitung

Kann: alles in Frage stellen

Kann nicht: es bleiben lassen

Liebt an Basel: Mit der Familie am Birsköpfli rumhängen und von rechts mit Reggaeton und von links mit Techno beschallt zu werden. Schnitzelbängg im SRF-Regionaljournal nachhören. In der Migros mit fremden Leuten quatschen. Das Bücherbrocki. Die Menschen, die von überall kommen.

Vermisst in Basel: Klartext, eine gepflegte Fluchkultur und Berge.

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  • Vorstand Gönnerverein des Presserats
  • War während der Jugend mal für die JUSO im Churer Gemeindeparlament. Bin aber ausgetreten, als es mit dem Journalismus und mir ernst wurde.

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