«Ist ziviler Ungehorsam legitim?»
Wie weit darf Widerstand gehen? Das fragt Klimaaktivistin Pauline Lutz die erfahrene Protestlerin Anita Fetz im Generationen-Ping-Pong.
Liebe Anita
meine Gedanken kreisen momentan ganz schön herum. Wie zerrissen das Verhältnis zwischen den einzelnen Menschen und der Gesellschaft sein kann, wird für mich gerade sichtbar. Wir reden viel über Solidarität, Eigenverantwortung und Freiheit. Und ich frage mich, wie weit kann und soll man für die eigenen Überzeugungen gehen?
Im Sommer 2019 haben 100 Aktivist*innen die UBS-Filiale am Aeschenplatz mit Kohle und Ästen verbarrikadiert, um gegen die Investitionen der Bank in den Abbau fossiler Energien zu protestieren. Nun wurden die ersten fünf Klimaaktivist*innen freigesprochen. Mehrmals betonte die Richterin, dass Klimaschutz kein Verbrechen sei. War die Aktion gerechtfertigt? Darf man also zivilen Ungehorsam ausüben?
Die Geschichte des zivilen Ungehorsams ist lang. Und ich bin jung. Für mich ist Protest ein legitimes, ja sogar notwendiges Mittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, um zu sagen: So geht das für mich nicht. Ob man sich dafür auch über das Gesetz hinwegsetzen soll, bleibt meistens eine theoretische Frage. Doch durch die neu erstarkte soziale Bewegungen wie die Klimajugend überlege ich: Wie weit würde ich gehen?
«Ein Gesetz unmoralisch finden und das zum Ausdruck bringen, indem man es bricht, kann manchmal enorm wichtig sein.»
Oft wird unter zivilem Ungehorsam eine Form des Protests verstanden, die einen bewussten und öffentlichen Verstoss gegen ein Recht beinhaltet. Doch schon der Fall der freigesprochenen Basler Klimaaktivist*innen zeigt, dass es nicht einfach ist – schliesslich wurden sie ja freigesprochen.
Ein Gesetz unmoralisch finden und das zum Ausdruck bringen, indem man es bricht, kann manchmal enorm wichtig sein. Die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks ist ein Beispiel dafür. Indem sie sich 1955 geweigert hatte, im Bus einem Weissen Platz zu machen, hat sie den weltbekannten Busboykott von Montgomery ausgelöst und einen entscheidenden Beitrag im Kampf gegen Rassismus in den USA geleistet . Sie hat bewusst und moralisch begründet ein geltendes Recht gebrochen.
Viele Bewegungen für soziale Gerechtigkeit gründeten sich auf den Grundsatz des zivilen Ungehorsams: Die Freiheitskämpfe von Gandhi, Martin Luther King, schon in der Antike gab es zivilen Ungehorsam.
Pauline Lutz und Anita Fetz fragten sich gegenseitig: Wie geht es dir in der Krise. Beide hoffen auf den Impfstoff. Und Pauline trifft eine wichtige Entscheidung. Hier liest du ihren Brief.
Aber gibt es eine Pflicht zum Widerstand – oder ist ziviler Ungehorsam Selbstanmassung? Kommt es zu einer moralischen Erpressung der Mehrheit durch eine Minderheit?
Ziviler Ungehorsam unterbricht und regt zum Nachdenken an und ist somit ein Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Wenn «geordneter Protest» nicht mehr funktioniert, wird zum zivilen Ungehorsam gegriffen, weil dieser provoziert und so möglicherweise stärkere Auswirkungen hat. Viele Bewegungen sind durch diese Form des Widerstands dazu gekommen, breit abgestützte Forderungen schneller voranzutreiben.
Heute wird der zivile Ungehorsam häufig als Mittel des Protests von Umweltschutzbewegungen benutzt: Wenn der Weg der Regierung so wenig weit geht, dass selbst riesige Demonstrationen nichts bringen, wird zum Beispiel zu Verkehrsblockaden gegriffen. Das finde ich grundsätzlich gut.
«Für mich gibt es also Momente, in denen ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist – aber auch seltene Formen, die ich als verantwortungslos empfinde»
Doch gerade in dieser Zeit frage ich mich manchmal, was ich nun von den Anti-Coronamassnahmen-Protesten halten soll. Schliesslich kann auch die kollektive Verweigerung des Masketragens als ziviler Ungehorsam gesehen werden. Coronaleugner*innen gebrauchen den Begriff bewusst, um ihre Haltung zu legitimieren. Aber ist er das wirklich? Ein ziviler Ungehorsam, der die bürgerlichen Freiheitsrechte verteidigt?
Ich denke, für mich ist es immer ein Abwägen, welches Gesetz nun gebrochen wird.
Da kommt für mich einerseits der Punkt der Gewaltlosigkeit ins Spiel: Wenn Rosa Parks nicht von ihrem Sitzplatz aufsteht oder friedlich eine Bankfiliale blockiert wird, wird keinem Lebewesen etwas angetan. Doch durch die Verweigerung von Social Distancing kommt es zu einer Gefährdung des Rechts auf Gesundheit (das übrigens ein Menschenrecht ist).
Andererseits geht es mir um die Wissenschaftlichkeit: Der Klimawandel ist wissenschaftlich belegt. Das Leugnen der Pandemie jedoch hat wissenschaftlich nicht Hand und Fuss.
Für mich gibt es also Momente, in denen ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist und stattfinden muss, um die Zivilgesellschaft aufzurütteln – aber auch seltene Formen, die ich als verantwortungslos empfinde. Das Thema ist echt vielschichtig.
Anita, wie siehst du das, als erfahrene Protestlerin?
Ganz herzlich,
Pauline
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Pauline Lutz (2002) engagiert sich bei der Basler Klimajugend und hat bis im Dezember internationale Beziehungen in Genf studiert. Die Kleinunternehmerin und ehemalige Ständerätin Anita Fetz (1957) politisierte bei der SP.