«Ich lasse mir nichts erzählen, was ich nicht selbst gesehen habe»

Bajour hat den Armenpfarrer Wolfgang Pucher aus Graz nach Basel zum Talk eingeladen. Im Gespräch erzählt er anschaulich, wie in der österreichischen Stadt Frieden mit den Bettler*innen eingekehrt ist.

Wolfgang Pucher Talk
Andrea Fopp, Chefredaktorin Bajour, und Armenpfarrer Wolfgang Pucher im Bajour-Talk.

Die erste Frage im Talk mit Pfarrer Wolfgang Pucher aus Graz geht gleich in die Vollen: «Hat Basel-Stadt das gut gemacht mit den Bettler*innen?», fragt ihn Bajour-Chefredaktorin Andrea Fopp. Puchers klare Antwort: «Nein.»

Basel hat seit dem 1. September 2021 wieder ein Bettelverbot. Nachdem es 2019 aufgehoben wurde und Bettler*innen in die Stadt kamen, ging eine Welle der Entrüstung durch die Stadt. Es wurde viel und lange diskutiert und gestritten über die Roma, nicht immer über der Gürtellinie. Viele Menschen fühlten sich gestört – und tun es bis heute. Politiker*innen von rechts und links sahen keinen anderen Ausweg als ein neues Verbot. Nur ist es besonders restriktiv ausgefallen und kommt einem pauschalen Bettelverbot gleich, prangern Kritiker*innen an.

Bevor der 82-jährige Pfarrer, der eigens für den Bajour-Talk in der Klara aus Österreich angereist ist, tiefer einsteigt in die Basler Politik, holt er aus. Rhetorisch, natürlich. Und erzählt den fast 50 Zuhörer*innen, was er in den vergangenen Jahrzehnten erlebt hat mit den Bettler*innen in seiner Stadt.

In Graz müsste sich Wolfgang Pucher nicht mehr vorstellen. Ihn und sein Engagement für die Armen kennt dort jede*r. Er wird auch «Armenpfarrer von Graz» genannt. Und nicht alle sind Fan von ihm. Andrea Fopp erwähnt in ihrer Begrüssung einige von Puchers Errungenschaften: Vor mehr als 20 Jahren hat er Schlafplätze für Bettler*innen organisiert, fünfmal ist er für die Bettler*innen vor Gericht gezogen, er ist Träger des Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich und Träger des Goldenen Ehrenzeichens des Landes Steiermark. Und vor allem hat Wolfgang Pucher mit viel Dialog und Einsatz massgeblich dazu beigetragen, dass heute Bettler*innen und Grazer*innen friedlich zusammen leben.

Geht das auch in Basel?

«Hunger am Rande der Zivilisation»

Aus Puchers Sicht haben das Graz von damals und das Basel von heute viel gemeinsam. Etwa, was die Vorurteile angeht. «Die Menschen reden über etwas, was sie nie gesehen haben», sagt Pucher. Die Menschen wüssten nicht, wie die Roma in ihren Heimatländern lebten, welche Umstände sie in die Armut trieben. Pucher plädiert dafür, die Bettler*innen anzusprechen und sie in ihrer Heimat zu besuchen. Er selbst hat das getan, war mehrmals in der Slowakei und in Rumänien und hat sich vor Ort ein Bild gemacht. Auch er sei bei den ersten Kontakten skeptisch gewesen, sagt er «Ich lasse mir nichts erzählen, was ich nicht selbst gesehen habe». Seine Haltung änderte sich rasch.

Ein paar Mal hat er auch Journalist*innen auf seine Reisen mitgenommen, die wiederum in Österreich über das Leid der Roma berichtet haben. «Hunger am Rande der Zivilisation» lautete die Überschrift eines Artikels aus dem Jahr 1999, Pucher hält eine Kopie in die Luft, damit alle im Publikum sie sehen können. Immer wieder wird er im Laufe des Abends solche Kopien oder Fotos nach oben halten. Der Mann hat etwas erlebt. Und er ist vorbereitet.

Der Pfarrer erzählt auch von dem Grazer Polizeidirektor, der ihn regelrecht hasste, wie er sagt. Er war Puchers Feind, prangerte ihn öffentlich an, machte ihn schlecht wegen seines Engagements für die Bettler*innen. Der Polizeidirektor hatte die typischen Vorurteile, die auch in Basel nicht fremd klingen: Die Bettler*innen würden schwindeln, das Geld einem Bettelboss abdrücken.

Dann nahm Pucher den Polizisten mit in die Heimat der Roma.

«Danach hat der Mann gesagt, er werde nie wieder so über diese Menschen reden, wie er es zuvor getan hatte.» Später sei er einer von Puchers grössten Unterstützer*innen gewesen, habe selbst Spenden gesammelt. 

«Ich setze einen Preis aus über 1000 Euro für den, der mir ein Foto des Mercedes vom Bettelboss zeigen kann. Den Bettelboss gibt es nicht.»

von Pfarrer Wolfgang Pucher

Eins der grössten Vorurteile gegenüber Roma – damals in Graz wie heute in Basel und anderswo – betrifft den Bettelboss. Viele meinen, die Bettler*innen müssten am Ende des Tages das Geld einem Anführer abgeben. Dazu sagt Pucher: «Ich bin seit 1996 auf der Suche nach diesem Bettelboss und bisher habe ich keinen gefunden.» Auch die Polizei in Graz hatte da kein Erfolg – trotz langer Suche. 

Moderatorin Andrea Fopp erwähnt, dass auch der Chef der Fremdenpolizei Bern sagt, bei Bettler*innen würden immer wieder Geldabgaben durch die herabgelassenen Scheiben vorbeifahrender Autos beobachtet. Von solchen mafiösen Strukturen hat Pfarrer Pucher noch nie etwas mitbekommen. «Ich setze einen Preis aus über 1000 Euro für den, der mir ein Foto des Mercedes vom Bettelboss zeigen kann. Den Bettelboss gibt es nicht», sagt er. Er gibt aber zu bedenken: Viele Roma leben nach wie vor in Clanstrukturen, in grossen Familie von bis zu 80 Personen.

Und es gebe ein Familienoberhaupt, das alles organisiert: Wo gebettelt wird, wie sich die Familie organisiert, dass alle etwas abbekommen und geteilt wird. «Er sorgt dafür, dass der Clan überleben kann», sagt Pucher. 

Vermittlungsarbeit

Warum nervt sich in Graz niemand mehr an den Bettler*innen, will Andrea nochmal genauer wissen. In Graz seien Bettler*innen in verschiedenen Kirchengemeinden als Angestellte untergebracht worden mit einem Lohn, erzählt Pucher. «Der sonntägliche Kontakt zwischen Kirchenbesuchern und Bettler – ohne, dass gebettelt wurde – hat die Stimmung ins Positive gekippt.»

«In Basel war die Ablehnung so gross, dass sogar Linke ein neues Bettelverbot forderten. Waren Sie nie genervt von den Bettler*innen?», fragt Andrea. «Selbstverständlich», entgegnet Pucher. «Ich habe alle Grazer Bettler in der Notschlafstelle untergebracht und konnte mit ihnen reden.» Er habe ihnen gesagt, wenn sie wollten, dass die Grazer*innen sie akzeptieren, müssten sie sich an verschiedene Regeln halten:

  • ohne Kinder im Schlepptau zu betteln
  • niemandem nachlaufen
  • Passant*innen nicht am Ärmel zupfen
  • nicht sagen, es sei zu wenig, was man bekommen hat

Wenn sich die Bettler*innen nicht daran hielten und eine Busse bekamen, habe er ihnen nie Geld gegeben. Das hätten sie sich selbst zuzuschreiben gehabt.

«Es gibt kein Volk der Welt, das so arm ist, so diskriminiert und ausgegrenzt, wie die Roma.»

von Wolfgang Pucher

Gegen Ende des Talks gibt Pucher unumwunden zu, dass er in seiner Arbeit auf Barrieren und Hürden stiess: «Je länger ich mich mit den Romni beschäftige, desto weniger verstehe ich sie.» Pucher versucht, trotzdem viel Verständnis für die Menschen aufzubringen, die eine ganz andere Lebensauffassung hätten, als er selbst. «Es gibt kein Volk der Welt, das so arm ist, so diskriminiert und ausgegrenzt ist wie die Roma», findet Pucher. Er gibt zu bedenken, dass sie dafür teilweise selbst verantwortlich seien. Sie hätten es bisher versäumt, als eine geeinte Partei zu sprechen.

Wie sie behandelt werden, sei trotzdem eine Schande. In ihren Heimatländer hätten sie es oft besonders schwer eine Arbeit zu finden. An sie werde immer als Letztes gedacht. 

Richten wir den Blick wieder auf Basel. Pucher erzählt, er habe am Tag zuvor den Menschenrechtler Christian Brünner angerufen, mit dem er selbst schon vor Gericht gezogen ist. Pucher habe ihn nach seiner Einschätzung zum Bettelverbot in Basel gefragt. Brünner habe zu ihm gesagt, das Basler Gesetz würde in Österreich nicht standhalten, weil es einem allgemeinen Bettelverbot gleichkomme.

Moderatorin Fopp erinnert an die hängige Klage der Demokratischen Jurist*innen Basels gegen das Bettelverbot vor dem Bundesgericht ergänzt: Auch ein Urteil aus Genf besagt, dass Betteln an sich nicht verboten werden darf. 

Dazu kommt der Kommentar eines Mannes aus dem Publikum: «Es wird häufig nur von den Bankautomaten gesprochen, vor denen nicht mehr gebettelt werden darf. In dem Verbot heisst es aber, dass vor jedem Wohn- und Geschäftshaus ein Abstand von fünf Metern eingehalten werden muss. Und das ist ein de facto Bettelverbot in der ganzen Stadt.»

Um auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Pfarrer Pucher ist nicht zufrieden über die Basler Entscheidung über ein Bettelverbot. Zeit für ein paar Tipps aus Graz. Wie hätte er es etwa mit dem Registrieren der Bettler*innen gelöst? In Basel hatten einige Bettler*innen auf eine Unterkunft in der Notschlafstelle verzichtet, weil sie dort ihre Daten angeben mussten.

«Der Polizeidirektor sagte mir, ich müsse die Leute polizeilich melden», erzählt Pucher. Er habe sich geweigert: «Wenn Sie das fordern, mache ich meine Einrichtung zu», habe er gedroht. Eine Stunde lang habe er mit dem Polizeidirektor gestritten, dann habe er eingesehen, dass es nicht sinnvoll ist, 80 Leute auf die Strasse zu setzen. «Ich habe ihn unter Druck gesetzt, das gebe ich zu.» Pucher sagt, er kämpfe für «seine Leute».

«Das Problem ist auf die Schnelle nicht lösbar. Es hat 20 Jahre gebraucht, bis in Graz Ruhe eingekehrt ist.»

Welche Tipps hat er noch? «Die Bettler*innen in Basel kommen aller Wahrscheinlichkeit nach alle aus der gleichen Gegend. Machen Sie den Ort zur Partnerstadt», sagt Pucher. Er formuliert drei Tipps:

  1. Bilden Sie eine Gruppe von zwölf jungen Leuten. Zusammen soll man dann darüber nachdenken, was in Basel verändert werden kann.
  2. Schaffen Sie ein Quartier mit Wohnraum ohne Verpflichtung zur Anmeldung.
  3. Nehmen Sie Kontakt mit der Heimat auf, verstehen Sie, was vor Ort los ist.

«Und was empfehlen Sie den Verantwortlichen der Kirchen in Basel?», will Andrea noch wissen. «Ich bin nicht euer Stadtpapst», meint Pucher erst. Dann sagt er: «Wenn alle Pfarrer in Österreich einen Raum freigeben würden für Obdachlose – und jede Kirche hat einen Raum frei – dann gäbe es keine Obdachlose mehr.» – «Das Gleiche gilt für Basel», ruft jemand aus dem Publikum.

Bei allen möglichen Lösungsansätzen mahnt Pfarrer Pucher: «Das Problem ist auf die Schnelle nicht lösbar. Es hat 20 Jahre gebraucht, bis in Graz Ruhe eingekehrt ist.»

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