Kantone prüfen kirchenunabhängige Strafverfolgung
Der sexuelle Missbrauch in der katholischen Kirche soll nicht ausschliesslich kirchenrechtlich, sondern auch strafrechtlich aufgearbeitet werden. Baselland und Basel-Stadt prüfen auf Anregung Zürichs eine Koordination mit anderen Kantonen.
Bei der katholischen Kirche ist Feuer unterm Dach. Am 12. September haben Forscher*innen der Universität Zürich die Ergebnisse einer Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch vorgestellt, in Auftrag gegeben 2021 von der katholischen Kirche selbst. 1002 Missbrauchsfälle seit 1950 wurden identifiziert, mehr als 500 Beschuldigte und fast 1000 Opfer, davon zwei Drittel Minderjährige ermittelt.
Die Forscherinnen gehen von einer weit höheren Dunkelziffer aus. Seither gelobt die Kirchenspitze Aufarbeitung dieser und weiterer Fälle und gibt sich bussfertig. Doch vielen Menschen fehlt nach zahlreichen aufgedeckten Missbrauchsfällen der rechte Glauben an die Besserungsgelübde der Kirchenmänner und fordern strafrechtliche Konsequenzen.
«Initiative für ein schweizweites Vorgehen»
Erstmals gibt es auch innerhalb der Kantone den Impuls, die kirchlichen Missbrauchsfälle unabhängig und in ihrer Gesamtheit durch die regulären Strafverfolgungsbehörden aufarbeiten zu lassen – denn auf eine Aufarbeitung durch die Kantone, wie zuletzt bei den Verdingkindern oder den administrativ Verwahrten wartete die Öffentlichkeit bis heute vergeblich.
Es sind nur Einzelfälle bekannt, in denen Polizei und Staatsanwaltschaften bei sexuellem Missbrauch in oder im Umfeld der römisch-katholischen Kirche tätig wurden. Damit soll es nun vorbei sein, jedenfalls, wenn es nach dem Regierungsrat des Kantons Zürich geht. Er hat die Initiative für ein schweizweites Vorgehen ergriffen, dem jetzt noch die übrigen Kantone zustimmen müssen.
Der «aufbruch», die Zeitschrift für Religion und Gesellschaft, ein Forum für reformorientierte Katholik*innen, muss aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen werden. Ende Oktober entscheidet der Förderverein an einer ausserordentlichen Generalversammlung über die Details.
Der «aufbruch» schreibe wegen sinkender Abo-Einnahmen «immer stärkere Verluste und muss leider eingestellt werden», wird der Schritt begründet. Zu den besten Zeiten wurden über 11'000 Abonnements verkauft, heute sind es weniger als 3000.
Die Zeitschrift porträtierte in der jüngsten Ausgabe etwa Vreni Peterer, die vom Dorfpfarrer missbraucht wurde und heute als Präsidentin der IG Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld Gerechtigkeit fordert. Gegründet wurde das Blatt 1988 als Reaktion auf den Konflikt um den Churer Bischof Wolfgang Haas und als Forum für reformorientierte Menschen in der Kirche.
In einem Interview mit Radio SRF sagte die Justizdirektorin des Kantons Zürich, Jacqueline Fehr, dass sie den Zürcher Oberstaatsanwalt beauftragt habe, ein mit anderen Kantonen koordiniertes Vorgehen zu prüfen und die Rolle der mehrheitlich passiven Beobachterin abzulegen.
«Wir prüfen das weitere Vorgehen»
Beide Basel wären offen dafür: «Wir haben von dem Anliegen Kenntnis genommen und werden es behandeln», sagt Toprak Yerguz, Mediensprecher des Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement, dem Stephanie Eymann vorsteht. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft ist ebenfalls mit der Situation befasst, so Sprecher Michael Lutz: «Wir prüfen das weitere Vorgehen in Bezug einer koordinierten Aktion mit den anderen Staatsanwaltschaften.»
Um das zu koordinieren, dienen zwei Organisationen: Die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz (SSK) und die «KKJPD»; die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren. Zunächst soll die Staatsanwaltschaft «in Zusammenarbeit mit der SSK einen Vorschlag für eine schweizweite, interkantonale strafrechtliche Untersuchung der Missbrauchsfälle und deren Umstände ausarbeiten», präzisiert Stefanie Keller von der Zürcher Justizdirektion auf Nachfrage.
Den Anschluss gebe schliesslich die KKJPD, deren Vorstand auch die Baselbieter Sicherheitsdirektorin Kathrin Schweizer angehört. «Die Untersuchung einzuleiten ist die Aufgabe der Politik», sagt sie.
Auch die eidgenössische «Justizministerin» sieht die Kantone am Zug: Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider sagte dem Tages-Anzeiger am Montag: «Was wir tun können? Die Zuständigkeit liegt primär bei den Kantonen. (…) Ich kann mir aber vorstellen, Missbrauch in der Kirche in die Roadmap zu häuslicher und sexueller Gewalt aufzunehmen. Dass der Bund bei Schutzkonzepten eine koordinierende Rolle spielt, wäre ebenfalls denkbar, aber ich will da nicht vorgreifen», so die Bundesrätin.
Sie spielt damit auf eine interfraktionelle Motion von vergangener Woche an. Neben Patricia von Falkenstein (LDP) fordern mehrere Nationalrät*innen per Motion «Schutzkonzepte zur Prävention von Missbrauch bei Organisationen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten».
«Der Unmut in der Kirche wächst enorm.»
Seit langem mehren sich die Stimmen, die den Kantonen vorwerfen, bei der Strafverfolgung zu passiv zu sein. Tatsächlich spricht die Studie der Uni Zürich von «systematischer Vertuschung». Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sprechen auch von «fehlendem Anzeigeverhalten». Das erschwere den Behörden die Verfolgung von Straftaten. Dass sich das verbessert, ist für die künftige Verfolgung von Missbrauchsfällen allerdings zentral.
Seit Bekanntwerden der neuesten Missbrauchsstudie wächst der Unmut auch in der Kirche enorm: Neben strafrechtlichen Konsequenzen gibt vor allem ein Vorstoss zur teilweisen Streichung der Kirchensteuerbeiträge zu reden. Er geniesst besonders in Luzerner Kirchgemeinden grosse Popularität. Die Steuern, teilweise oder ganz, sollen ausgesetzt werden, so die Forderung, bis sich die Glaubensgemeinschaft hinreichend gegen Missbrauch reformiert hat.
«Der Glaube an Reformen schwindet.»
Viele scheinen unterdessen den Glauben an Reformen verloren zu haben. In den letzten 50 Jahren, seit ihrer Anerkennung als öffentlich-rechtlicher Institution, nahm etwa die Anzahl der Mitglieder der römisch-katholischen Kirche Basel von 90'000 auf unter 20'000 ab. Eine Abstimmung mit den Füssen über die Zukunft der Kirche, die sich in den letzten Wochen aufgrund des Untersuchungsberichts der Uni Zürich dramatisch beschleunigte.
Ein weiteres böses Omen ist, dass die lange Jahre in Basel herausgegebene Zeitschrift für kritische Katholiken «aufbruch» aus wirtschaftlichen Gründen die Segel streichen muss – zu einem Zeitpunkt, an dem eine kontroverse, innerkirchliche Reformdebatte angebracht wäre.
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