Alle Achtung

Warnungen haben Konjunktur. Für Bajour-Kolumnistin Cathérine Miville wird das schnell mal zu viel. Man kann – und sollte – nicht vor allem warnen, findet sie. Vor allem nicht vor Kunst.

Cathérine Miville
Cathérine Miville – Ma ville

Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.

Kennen Sie das: Onkel Hans hat sich das Bein gebrochen. Danach schärft sich unser Fokus und wir gewinnen den Eindruck, von lauter Menschen umgeben zu sein, die einen Sportunfall gebaut haben.

So ähnlich ging es mir in den vergangenen Sommerwochen. Mir fiel in ganz unterschiedlichen Momenten auf, wie sehr Warnungen Konjunktur haben:

ACHTUNG KUNST

Die drei ehrenwertesten Rhy-Schwimmer sind aufgetaucht. Seit der Wasserstand etwas niedriger ist, lassen sich Vogel Gryff, Leu und Wild Maa wieder gut sichtbar die Sonne auf den Bauch scheinen. Die zackigen Stein-Skulpturen von Ludwig Stocker sind lange bevor Rhy-Schwimmen zum Volkssport wurde bei der Mittleren Brücke auf Kleinbasler Seite flussaufwärts verankert worden und seither mal mehr mal weniger – und manchmal eben auch gar nicht – sichtbar. Ist nicht ganz ungefährlich für Schwimmer*innen. Ein Hinweis ACHTUNG KUNST wäre hier super. Und es wäre auch eine gute Stelle für ein kunstvoll gestaltetes Achtung: SCHWIMMEN IM RHEIN IST LEBENSGEFÄHRLICH.

KUNSTWERKE KÖNNEN VERSTÖREND WIRKEN

Auf die sehr präsenten Warnungen in der Ausstellung «Virtual Beauty» im HEK hätte ich hingegen gerne verzichtet: «Manche Werke dieser Ausstellung können verstörend sein.» Zusätzlich zeigen Bodenmarkierungen, wenn ein Gang zu einem möglicherweise verstörenden Werk führt. Filip Ćustićs interaktive Arbeit «Pi(x)el» wurde auch noch durch einen Plastikvorhang vom freien Blick der Besucher*innen versteckt. Warum?

Sie zeigt nur einen Torso, der an zentralen Stellen mit Touchscreens ausgestattet ist, die die verschiedenen Körperteile wahlweise in weiblicher oder männlicher Form projizieren: Vulva oder Penis ist die Frage … aber aus meiner Sicht doch keine, die Menschen heute nachhaltig belastet. Sind diese Warnungen vor Kunstwerken möglicherweise auch Lockmittel und damit Teil einer PR-Strategie?

So oder so – diese Form der Entmündigung von Menschen, die Kunst mit freiem Blick wahrnehmen möchten, irritiert mich. Ja. Kunst will, kann, muss manchmal auch verstörend wirken.

Während des Rundgangs erinnerte ich mich an ganz frühe Theatererlebnisse. Es war Anfang der 70er-Jahre, die Zeit, als die ersten Nackten auf Bühnen spielten – was für ein Skandal! Einzelne Szenen sind bis heute sehr präsent geblieben. Sie haben mir sehr früh sinnlich fassbar vermittelt, was Gewalt bedeutet und wie verabscheuungswürdig sie ist.

Ich bin sehr dankbar, dass ich früh eigenständige Erfahrungen machen konnte und heute überzeugt, Kinder und Jugendliche nehmen Kunst so auf, wie sie diese verarbeiten können. Schwierig ist es bei Videos und Filmen. Aber da, fürchte ich, bekommen Kids wirklich schädliche Inhalte woanders und nicht in Kunstausstellungen zu sehen.

DER LACHENDE RIESE 

Oder soll man auch den Riesen im Kannenfeldpark abbauen? Schon seit 1990 steht der von Markus Böhmer geschaffene Lachende Riese dort. Eine riesengrosse Statue mit unverhülltem Geschlecht und knackigem Po. Der Riese schaut freundlich über die Spielwiesen und lockt so manche Entdeckerlust.

Ich hatte sehr viel Spass mit einer Kindergarten-Gruppe, die den Riesen besuchte. Die Kids, sie sind so klein, dass sie zwischen den Beinen des Riesen durchgehen könnten, haben sich nach eingehender Inspektion der Details gemeinsam darauf verständigt: pipi und kaka. Und dann tanzten sie fröhlich laut «pipi-kaka-pipi-kaka» skandierend um den Riesen herum. Und ihre ungezwungenen Begleiterinnen hatten ihre Freude daran. Wie schön.

ACHTUNG ELTERN

Ganz so fröhlich leicht werden Kunstwerke jedoch nicht überall akzeptiert: Al Dente. Nein, das ist kein Anklang an einen Teller Pasta in einer gemütlichen Trattoria. So heisst vielmehr eine künstlerische Intervention, die knapp zehn Jahre lang im Hirzbrunnen Schulhaus Primarschüler*innen «erste, prägende Begegnung mit zeitgenössischer Kunst» ermöglichte. Locker im Raum verteilt haben sechs in Beton gegossene Benotungs-Ziffern ihre streng wertende Rangfolge verloren.

Tempi passati. Im Juli wurde die vom Kunstkredit finanzierte Plastik «Al dente» von Pawel Ferus weggeschafft. Ein Kind ist über die Ecke einer Ziffer gestolpert und hat sich wohl eine Schürfwunde zugezogen. Das Kunstwerk mutierte – aus elterlicher Sicht – zur Stolperfalle und musste weg. Bleibt zu klären, ob das Mobiliar im Schulgebäude stehen bleiben darf, obwohl sich schon so manches Kind an einem Tisch eine Beule geholt hat. Vorschlag meinerseits: Bagger bestellen, asphaltierte Schulhöfe umgraben und in spielfreundliche Wiesen verwandeln. Statt Kunst vor dem Schulhaus ein Schild: ACHTUNG ELTERN.

ACHTUNG WARNUNG

Auch bei Literatur werden wir «gewarnt», beispielsweise wenn der Autor plant, das Z-Wort zu verwenden. Die Diskussion darüber, ob er das darf oder in seinem Zusammenhang muss, beschäftigt Kultur-Berichterstattungen über Monate. Dabei gerät das Werk an sich arg ins Hintertreffen. Aber nun ist Sulzers «Fast wie ein Bruder» erschienen und wird dank der Z-Wort-Aufmerksamkeit sicher gut verkauft.

PS: Vor einigen Tagen ist mir im Bajour-Briefing der Inhaltlicher Hinweis aufgefallen: «Im nächsten Abschnitt geht es um Mord. Wenn dich das belastet, lies ab der rosa Basler*in-des-Tages-Box weiter.» Rosa Box ist natürlich eine Möglichkeit. Oder damit leben. Achtung: LEBEN IST GEFÄHRLICH.

Basel Briefing

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