Wenn d Mässglöggli lüte
Kolumnistin Cathérine Miville erlebt ein nostalgisches Viertelstündchen bei der Martinskirche und sinniert darüber, wie komplex es damals wie heute ist, den (Mäss-)Batze clever zu verteilen.
Am Samstag läuteten d Mässglöggli wieder die Herbstmesse ein. Früher blangte ich sehr, bis ich mit meinen Eltern zum Martinskirchplatz durfte. Und schon davor habe ich hin und her überlegt, wieviel ich vom Mässbatze für mich und meine wechselnden Lieblingsbahnen und Leckereien ausgeben und wieviel ich für den Örgelimaa reservieren möchte – keine leichte Entscheidung, die an Komplexität wenig dem Aufstellen eines städtischen Haushalts nachsteht.
Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.
Nun stand ich also nach sehr langer Zeit wieder da. Auch wenn sich die über 550 Jahre alte Basler Herbstmesse zur grössten und vielfältigsten Vergnügungsmesse der Schweiz mit erheblicher internationaler Ausstrahlung entwickelt hat, so war es doch – von der Ansprache des Regierungspräsidenten und den Luftballons, die an Kinder verteilt wurden, mal abgesehen – im Kern wie damals: Es bleibt einfach ein magischer Moment, vergleichbar nur mit dem Vierilüte am Morgestraich und, nein – mit den lauten Böllerschüssen vom Vogel Gryff hatte ich es nicht so sehr aber mit dem Wiehnachtsglöggli, das den ersten Blick auf unseren immer zauberhaft geschmückten Baum freigab.
«Die Magie entsteht immer beim Warten.»
Die Magie entsteht immer beim Warten, also am letzten Samstag bis nach dem Mittagsgeläut der Martinskirche dann endlich die beiden Mässglöggli im Duett einsetzten.
D Mäss erlaubt ja auch mal nostalgisch zu werden und so schwelge ich ein bisschen in Erinnerungen: Der Spaziergang zum «Mäss-Ylytte» wurde – familiär bedingt – immer auch ein bisschen mit altersgemässer Wissensvermittlung aufgeladen. Erzählungen zur Geschichte der Martinskirche und der Herbstmesse gehörten einfach dazu: vom Glöckner, seinen beiden Wollhandschuhen, dem Mäss-Horn und vielem mehr.
Die Kombi aus reinem Mässvergnügen und historischem Begleitprogramm entsprach unserem familiären Grundmuster, das sich auch bei unseren Urlauben abbildete: So waren Strand und «alti Stei» bei Reisen gleichermassen Teil des Programms. Eigentlich war ja beides ok, nur nicht immer beides ähnlich beliebt.
«Vielleicht ist damals auch das Gespür dafür in mir gewachsen, dass für die Kinder, denen ihre Eltern die Schönheiten und Widersprüche der Welt nicht vermitteln können, alternative Angebote geschaffen werden müssen.»
Heute empfinde ich es als Glück, als Kind so viel über die Geschichte unserer Stadt erzählt bekommen zu haben. Und ich schätze es als besonderes Privileg, dass uns auf Reisen die historischen Zusammenhänge erläutert wurden, die «alti Stei» erzählen. Vielleicht ist damals auch das Gespür dafür in mir gewachsen, dass für die Kinder, denen ihre Eltern die Schönheiten und Widersprüche der Welt nicht vermitteln können, alternative Angebote geschaffen werden müssen.
Das meiste habe ich im Detail leider längst wieder vergessen. Geblieben ist mir aber auf Basel bezogen vor allem eine – trotz meiner langen Abwesenheit – grosse Nähe zur Stadt, auch zu einzelnen Gebäuden und Plätzen. Und die Martinskirche ist so ein spezieller Ort für mich. Nicht allein wegen der Mässglöggli. Auch weil ich da als Jugendliche zentral wichtige musikalische Erlebnisse hatte, die meine späteren beruflichen Tätigkeiten – zusammen mit dem damaligen Stadttheater – sehr stark beeinflussten.
«Schon damals war ich nicht gläubig. Aber ich dachte, wenn Händel zu Ehren eines Gottes so betörend schöne Musik kreieren kann, muss vielleicht ja doch etwas dran sein.»
Ich war im Schulchor und wir durften als absolutes Highlight mit Paul Sacher und dem von ihm gegründeten Basler Kammerchor eine Aufführung von Händels Messias mitsingen. Bei der ersten Probe mit den Solist*innen erlebten wir Jugendlichen dann zum ersten Mal einen Altus. Und so hallte beim ersten Einsatz dieser hohen Männerstimme ein lautes Gelächter durch die Martinskirche.
Sacher musste die Probe unterbrechen. Aber er schmiss uns nicht raus, sondern erläuterte uns, was ein Altus ist und auch was ihn bewogen hat, die Partie mit einem Mann zu besetzen. Der Moment ist mir unvergessen geblieben, weil sich Paul Sacher die Zeit nahm, uns Zusammenhänge aufzuzeigen.
Und ich erinnere mich auch noch sehr genau an das überwältigende Klangwunder, das ich fühlen konnte, so mitten im Chor bei der Aufführung eines grossen Chor-Werkes. Schon damals war ich nicht gläubig. Aber ich dachte, wenn Händel zu Ehren eines Gottes so betörend schöne Musik kreieren kann, muss vielleicht ja doch etwas dran sein.
«Es wäre so schön, wenn nun auch noch die ellenlangen Wartelisten der Musikschule abgebaut würde. Mittel wären ja theoretisch vorhanden.»
Aus Kirchen, die nicht mehr als Gotteshäuser benötigt werden, sind in Basel eine Vielzahl an Begegnungsstätten, Konzert- Theater- und Probenräume entstanden. Kirchen, Stiftungen und die Stadt leisten dabei wirklich Grosses. Und so wird der städtische Konsens zur Wertigkeit vielfältiger Kultur-Angebote auch hier aufs Feinste sichtbar.
Es wäre so schön, wenn nun auch noch die ellenlangen Wartelisten der Musikschule abgebaut würde, auf der Kinder erst einmal über Jahre geparkt werden, bevor sie in dieser wunderbaren Institution ein Instrument lernen dürfen.
Mittel wären ja theoretisch vorhanden: Die hohen Überschüsse im Stadt-Haushalt sind eine feine Sache. Und mit Rückzahlungen an Steuerpflichtige kann man sich bestimmt beliebt machen. Zum Glück muss ich nicht entscheiden, ob dies aber auch statthaft ist, wenn gleichzeitig eine so zentral wichtige Aufgabe, wie die der kulturellen Bildung, nur bedingt erfüllt werden kann – aus finanziellen Gründen.
Kleiner Nachtrag: Über s Mässglöggli sprechen alle im Singular. Warum eigentlich, wenn es doch zwei sind und wohl auch immer waren. Ich habe mir erlaubt, über d Mässglöggli im Plural zu schreiben, da ich noch niemanden gefunden habe, der mir die Frage beantworten konnte. Ein Mässmogge für alle, die mir helfen, das Rätsel zu lösen.