Kunst zum Anfassen und Fühlen
Kolumnistin Cathérine Miville besucht die neue Dauerausstellung im Basler Blindenheim und erfährt eine ganz neue Möglichkeit, Kunst zu ertasten und zu erleben.
Neulich betrachtete ich ein Textil-Kunstwerk. Vor mir stand eine Frau, die das Bild aus der Nähe auf sich wirken liess und es hin und wieder anfasste. Die automatische Glas-Schiebetüre öffnete sich. Ein kleiner Junge stürmte herein, lief schnurstracks auf die Dame zu, umarmte sie um die Hüfte und statt einer Begrüssung sagte er: «Das isch neu! Aber du chasch es jo nid seh.» Fasziniert blieb er vor dem Bild stehen, auch als seine Mutter mit der Grossmutter in die Sitzecke ging. «Du darfschs au alänge», forderte die ältere Dame ihn auf. Ungläubig schaute der Knirps zu seiner Mutter, doch sie lächelte zustimmend.
Damit ist klar: Ich war in keinem Museum. Nein, ich stand vielmehr in der Eingangshalle des Blindenheims, genauer: im Eingang des Erweiterungsbaus, den die Stiftung Blindenheim Basel als Haus der Begegnung und des Miteinanders konzipierte.
Vor einiger Zeit sprach ich mit Nicolas Joray über eine Fotoserie, die er für das neue Blindenheim erarbeitete. Foto-Kunst für blinde Menschen – das faszinierte mich. So nahm ich gerne die Einladung zur Eröffnung der Ausstellung «Kunst am Bau – Erlebbar, Fühlbar, Sichtbar» an.
Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.
Am bisherigen Standort an der Kohlenberggasse errichtete die Stiftung ein neues Wohn-, Alters- und Pflegezentrum mit dem Namen «Irides» – ein Ort, an dem Menschen mit und ohne Einschränkungen gemeinsam leben. Schon früh legte der Bauherr Wert darauf, neben der Funktionalität auch ästhetische Anreize zu schaffen. Die Idee: Eine Dauerausstellung, deren Werke visuell, haptisch und akustisch erlebbar sind.
Dazu initiierte der Stiftungspräsident Pierre Jaccoud 2021 eine Kooperation mit der Basler Kunst Gesellschaft (BKG) Im Rahmen des intensiven gemeinsamen Entwicklungsprozesses, in den auch die Architek*innen eingebunden waren, startete die BKG einen Wettbewerb. Zur Information und Inspiration unternahm die Gruppe vorab einen gemeinsamen Ausflug ins Schweizerische Blindenmuseum nach Zollikofen. Aus den sehr unterschiedlichen, eingereichten Projekten wählte die Stiftung final fünf Entwürfe zur Umsetzung aus.
Im Vordergrund stand bei der Auswahl auch die Sicherheit der Bewohner*innen. So wurde beispielsweise ein Projekt nicht realisiert, das vorsah, die Handläufe in den Treppenhäusern unterschiedlich zu gestalten. Alle Handläufe im Haus müssen sich einheitlich anfühlen, damit die Bewohner*innen auch in einer Schrecksekunde bei einem möglichen Stolpern eindeutig wahrnehmen: ich halte mich wirklich am sicheren Handlauf fest.
Entstanden ist nun eine aussergewöhnliche Ausstellung, die im Haus, auf der Dachterrasse sowie im Gärtchen dazu einlädt, Kunst gemeinsam auch ohne Einsatz der Augen mit den Händen und den Ohren sinnlich zu erkunden. Die sehr unterschiedlichen Werke verbindet eines: Sie strahlen hohes künstlerisches Niveau sowie Einfühlungsvermögen und sinnlichen Sachverstand aus.
Kunstwerke, die alle Sinne ansprechen
Das übergrosse Auge mit Wimpern und Brauen in der Eingangshalle des Blindenheims thematisiert das Sehen. Es wurde aus einer Vielzahl unterschiedlichster Tierhaare unter anderem von Pferden, Yaks, Lämmchen und Alpakas auf einer kunstvoll in Augenform gefertigten Buchenholz-Platte mit 5530 Löchern realisiert.
In jedes der Löcher wurden nach dem Entwurf von Alexia Papadopoulos in monatelanger Handarbeit einzelne Haare eingebunden, die in Farbe und Haptik haarklein den Vorstellungen der Künstlerin entsprechen. Dabei bewiesen die Mitarbeiter*innen der traditionsreichen Bürstenbinderei und der Schreinerei eine bemerkenswertes Handwerk. Und weil das Werk, das ja auch mit Händen betrachtet werden soll, ausschliesslich aus Naturhaar gefertigt wurde, kann es auch immer wieder gesäubert und von der Friseurin frisch aufgehübscht werden.
In Zusammenarbeit der Künstler*in mit den hauseigenen Werkstätten ist ein veritabler Eyecatcher für die sonst schlicht gestaltete Eingangshalle entstanden, der auch dem kleinen Jungen sofort auffiel. Er erkundete noch lange, wie unterschiedlich sich Tierhaare anfühlen können.
Die beiden Kunstwerke «Wolke» von Sylvia Goeschke sowie die fünf Reliefs von Gido Wiederkehr, die das Thema «Iris» variieren, spielen mit starken Licht- und Farbimpulsen und bieten beim Betrachten und beim Ertasten ein abwechslungsreiches Erlebnis.
Auf der Dachterrasse lädt das «Stadtmodell in Bronze» von Pascal Joray und Roman Müller zu einem imaginären Flug über Basel ein. Der korrekt nach dem Blick von der Terrasse ausgerichtete Plan mit Strassenzügen, Plätzen und Bauwerken ist in Braille beschriftet und bietet blinden Menschen Orientierung, wo in der Stadt sie leben. Beim Ertasten der Realität können bei Menschen, deren Sehvermögen im Alter nachgelassen hat, Erinnerungen aus früheren Zeiten aufgefrischt werden. Und schon fliegen die Gedanken.
Die zwölf Klang-Bilder von Nicolas Joray ermöglichen ebenso Momente der Erinnerung für Menschen, deren Augen nachgelassen haben.
Der Fotograf und Filmemacher verbindet Fotomotive aus Basel mit den typischen Geräuschen vor Ort: Wasser, Vögel, Glocken, Schiffssirenen. Zu allen Fotomotiven – wie «Herbstmesse mit Münster», «Flamingos im Zolli» oder «Nilgänse, Tauben am Hafenbecken 1» – schuf er Klang-Collagen, die per Knopfdruck aktiviert und über kleine Lautsprecher in den Holzrahmen gehört werden können. Auf einem der Bilder sind Trommler und Pfeifer zu sehen. Sie läuten gerade das Glöckli der Vogel Gryff-Fähri. Man hört das Rauschen des Rheins, Möwen, Schwäne, eine leise Collage aus Fasnachtsmärschen und: ein Glöckchen.
Nicolas Joray verriet mir dazu, er hätte in seiner Filmemacher-Sound-Sammlung irgendein Fähri-Glöcken gehabt und zunächst gedacht, dass sich das ja wohl nicht gross von dem der Vogel Gryff-Fähri unterscheiden dürfte. Da er sich aber schäbig vorgekommen wäre, eine falsche Glocke in die Collage einzuarbeiten, ist er noch einmal losgezogen Als er den Bewohner*innen ihr Bild und ihre Soundcollage präsentierte, freute sich ein blinder Mann: «Oh s Glöggli vo dr Vogel Gryff-Fähri.» Er konnte sofort erkennen, wo das Foto aufgenommen wurde und so seine Erinnerungs-Bilder abrufen. Und Nicolas Joray war richtig froh, nicht geschummelt zu haben.
Ein Haus, das verbindet
Dieses kleine Beispiel machte mir gerade auch bei meinem zweiten Ausstellungsbesuch deutlich: Bei der Konzeption und Realisierung des neuen Blindenheims «irides» standen für alle Beteiligten die Lebensumstände und die Bedürfnisse der Bewohner*innen im Fokus. So ist ein funktionaler Bau für Menschen entstanden.
*Cathérine Miville ist Mitglied der Basler Kunst Gesellschaft.