Angst vor Kindern

So wenige Kinder wie jetzt sind noch nie in der Schweiz geboren. Es ist höchste Zeit, dass das Land familienfreundlicher wird, meint Chefredakteurin Ina Bullwinkel. Besonders attraktiv ist das Elternwerden nämlich nicht, und eine Gesellschaft, die sich nicht reproduziert, verarmt.

Familie Geburtenrate
(Bild: Unsplash/Collage Bajour)

Was sind die Gründe dafür, dass die Geburtenrate in der Schweiz aktuell so niedrig ist wie nie zuvor? Sie steht bei 1,52 Kindern pro Frau und damit liegt das reichste Land auf einem der hinteren Plätze in Europa. Genannt werden Sorgen zum Klimawandel und zur geopolitischen Lage, eine grössere Akzeptanz für ein kinderloses Leben, ein späterer und dadurch häufiger unerfüllter Kinderwunsch, schlechtere Spermienqualität.

Das alles mag eine Rolle spielen. Aber wenn wir ehrlich sind, ist es einfach nicht besonders attraktiv, in der Schweiz ein Kind, geschweige denn zwei, drei oder mehr Kinder zu bekommen. Vor allem aus Sicht der Frauen. Nach den 14 Wochen Mutterschutz heisst es entweder arbeiten oder kündigen – und hoffen, nach 1-2 Jahren wieder eine ähnlich gute Stelle zu finden. In einigen Branchen ist das relativ unwahrscheinlich. Viele Frauen fragen sich ausserdem, ob es sich lohnt, arbeiten zu gehen, wenn ihr Lohn zum grossen Teil für die Kita draufgeht. Der Gender-Paygap lässt grüssen. Dass die Männer ihre Stunden reduzieren oder gar länger zu Hause bleiben, kommt selten vor. Den «Vaterschaftsurlaub» von zwei Wochen, der gerade mal reicht, um ein paar Mal für die junge Mutter zu kochen, spare ich an dieser Stelle mal aus.

Wenn Beruf und Familie fast nicht unter einen Hut zu bringen sind, bringt das früher oder später auch der Wirtschaft und den einzelnen Unternehmen Nachwuchsprobleme.

Das System ist immer noch darauf ausgelegt, dass die Mutter zu Hause bleibt. Viele Frauen möchten das auch gern und entscheiden sich zusammen mit Partner oder Partnerin dafür. In unserer Gesellschaft gilt eine Frau aber für viele nur dann als emanzipiert, wenn sie finanziell unabhängig ist. Das ist jedoch meistens nur durch (nahezu Vollzeit-) Erwerbstätigkeit und Abstriche in anderen Lebensbereichen möglich. Die Care-Arbeit zählt weniger und ist meistens unbezahlt. Wer hat da Lust «nur Mutter» zu sein? Geschweige denn «nur Vater»? Wer bei seiner Mutter, Schwester oder Bekannten miterlebt hat, wie die Kosten für die Kinder die Altersvorsorge förmlich auffrassen, überlegt länger, ob sie sich ein Kind leisten möchte. 

Eine Gesellschaft, die sich nicht reproduziert, verarmt langsam. Wenn Beruf und Familie fast nicht unter einen Hut zu bringen sind, bringt das früher oder später auch der Wirtschaft und den einzelnen Unternehmen Nachwuchsprobleme. Damit mehr Kinder geboren werden, muss die Atmosphäre in einem Land insgesamt kinderfreundlicher werden. 

Arbeitgeber*innen sollten sich freuen, wenn ihre Angestellten schwanger werden und ihren Beitrag leisten. Am besten im Kampf um mütterliche Talente eine Betriebskita gründen und den Nachwuchs nicht primär als Belastung sehen. Frauen sollten weder in den Arbeitsmarkt noch in die Rolle zu Hause gedrängt werden. Sie sollten eine echte Wahl haben. Und dazu sollten auch die Väter ihren selbstverständlichen und gleichberechtigten Teil beitragen. 

Die richtige Familienpolitik beginnt erst nach der Geburt, also bei guten, bezahlbaren Kitas, Tagesstrukturen, Ganztagsschulen, Zahlungen in die Pensionskasse während der Care-Arbeit, flexiblen Arbeitszeiten und so weiter.

Günstigere Kitas, wie es sie ab August in Basel-Stadt gibt oder Ferienbetreuung in den Tagesstrukturen, sind ein wichtiger Pfeiler, aber alleine nicht der Heilsbringer. Es hat sich gezeigt, dass in den Ländern, in denen viel in familienpolitische Leistungen investiert wurde, etwa in Skandinavien, auch die Geburtenrate gestiegen ist. Die richtige Familienpolitik beginnt allerdings erst nach der Geburt, also bei guten, bezahlbaren Kitas, Tagesstrukturen, Ganztagsschulen, Zahlungen in die Pensionskasse während der Care-Arbeit, flexiblen Arbeitszeiten und so weiter.

Und es eilt langsam in Sachen Familienpolitik. Die aktuellen Daten zeigen, dass die Geburtenraten noch deutlicher zurückgehen als gedacht. Manche Forscher*innen gehen sogar davon aus, dass die jetzige Entwicklung unumkehrbar ist und dies schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft haben wird.

Der einzige Ausweg ist eine zuversichtliche Gesellschaft, die nach vorne schaut, politische Massnahmen ergreift, integrativ und attraktiv für Zuwanderer ist und konstruktive Lösungen gegen den demografischen Wandel einleitet.

Die Problematik machen sich auch immer mehr Politiker*innen zunutze, die nationalistisch argumentieren oder sich auf scheinbar gute frühere Zeiten berufen, als «wir» noch unter «uns» waren. Populist*innen schüren die Angst, dass nur die Ausländer*innen Kinder bekommen und «das eigene Volk» ausstirbt. Beim ungarischen Präsidenten Orbán klingt das dann so: «Ungarische Kinder statt Migranten». In der Schweiz gibt es ähnliche Tendenzen.

Ohne Einwanderung wird es allerdings nicht gehen, wenn sich der Fachkräftemangel mit der schrumpfenden arbeitsfähigen Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten verschärft und gleichzeitig die AHV finanziert werden soll. Die Angst vor dem Aussterben wird der Fremdenangst bald in nichts nachstehen. Es könnte sein, dass wir bald das heutige Schreckgespenst der 10-Millionen-Schweiz als rosarote Utopie aus vergangener Zeit betrachten.

Der einzige Ausweg ist eine zuversichtliche Gesellschaft, die nach vorne schaut, politische Massnahmen ergreift, integrativ und attraktiv für Zuwanderer ist und konstruktive Lösungen gegen den demografischen Wandel einleitet. Ängste sind je nachdem gut fürs politische Geschäft. Familienpolitisch sind sie auf jeden Fall die schlechtesten Berater.

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