Vor lauter Krieg die Opfer nicht vergessen

Ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel sollte heute, am 7. Oktober, an die Opfer des Massakers und die noch immer verschleppten Geiseln gedacht werden. Ein Innehalten ist aufgrund der aktuellen Gewaltspirale aber kaum möglich, kommentiert Valerie Wendenburg.

Kommentar 7. Oktober
Fotos an der Klagemauer in Jerusalem erinnern an die verschleppten Geiseln. (Bild: Leo Correa / Keystone / Collage Bajour)

Der Schock war immens, als die Bilder des brutalen Massakers der radikalislamischen Hamas auf israelische Zivilist*innen um die Welt gingen. Schnell war klar: Die schlimmste Attacke auf Jüd*innen seit dem Holocaust war auch ein Angriff auf die Existenz Israels. Rund 1200, zum grossen Teil junge Menschen, wurden brutal ermordet und über 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Rund 100 von ihnen werden heute noch vermisst. Grund genug, ein Jahr später innezuhalten und der Opfer zu gedenken. 

Wenn aber heute vom 7. Oktober 2023 gesprochen wird, kann der Tag kaum losgelöst von den Ereignissen gesehen werden, die sich seither ereignet haben. Wer an den 7. Oktober denkt, hat nicht nur die Bilder des Hamas-Angriffs und der Geiseln im Kopf, sondern auch die der unzähligen Opfer des darauffolgenden Kriegs in Gaza.

Auch wenn schon bald klar war, dass Israel militärisch auf die Terrorattacke reagieren würde, so waren viele vom Ausmass der Militäroperation in Gaza überrascht. Bis heute äussern weltweit kritische Stimmen teils massive Kritik an der israelischen Politik. 

War die Stimmung in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober zumeist von Empathie für die Jüd*innen geprägt, so schlug sie schnell um. Die Solidarität mit Israel bröckelte angesichts der Bilder der Zerstörung aus Gaza, und das Elend der Palästinenser*innen liess die Terrorattacken der Hamas schon bald in den Hintergrund treten.

Differenzierte Auseinandersetzungen zum Krieg im Nahen Osten sind kaum möglich.

Berechtigte Kritik an der Politik Israels gab es genauso wie vermeintliche Kritik, die bewusst immer wieder auch dafür genutzt wurde, antisemitische Botschaften zu verbreiten. Die Folgen liessen nicht lange auf sich warten: unverblümter Hass. Jüd*innen in aller Welt fühlten und fühlen sich unsicher. So wurde jüdischen Schüler*innen in Basel geraten, keine Kippa auf dem Schulweg zu tragen. Und der damalige Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Basel wurde auf offener Strasse bespuckt.

Je länger der Krieg in Gaza andauert und je massiver das militärische Vorgehen seitens der israelischen Regierung wird, desto mehr gerieten die tausenden Todesopfer und das immense humanitäre Leid in den Fokus der Weltöffentlichkeit. Die Bilder von hungernden und sterbenden Kindern kann Israel kaum rechtfertigen. Die Härte des Konflikts, die vor allem die Zivilbevölkerung trifft, liegt jenseits jeglicher Verhältnismässigkeit.

Die Lager sind gespalten und der Konflikt polarisiert. Dies haben in Basel die Pro-Palästina-Demos und die Besetzungen der Universität gezeigt. Differenzierte Auseinandersetzungen zum Krieg im Nahen Osten sind kaum möglich und selbst der Uni ist es bisher nicht gelungen, eine inhaltliche ausgewogene Debatte zum Thema zu lancieren.

Das Massaker der Hamas ist bei vielen bereits in den Hintergrund der Aufmerksamkeit gerückt.

Darüber, wie es nun weitergeht, kann nur spekuliert werden. Es ist unerträglich, dass es nicht gelungen ist, mehr Geiseln im Verlauf des vergangenen Jahres frei zu bekommen. Dies wäre im Zuge der von US-Präsident Joe Biden vorgeschlagenen Waffenruhe vielleicht möglich gewesen.

Offensichtlich kann der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu diesen Krieg bisher nach seinem eigenen Kalkül weitgehend ungehindert weiterführen, der sich mittlerweile auf den Norden Israels und den Libanon ausgeweitet hat. Die humanitäre Katastrophe in Gaza hält unvermindert an, tausende zivile Opfer und Flüchtlinge im Libanon kommen hinzu. Die Sorge über eine mögliche weitere Eskalation – auch im Hinblick auf den Iran – ist gross. 

Somit überschatten Angst, Verzweiflung, Ungewissheit und auch Wut den heutigen 7. Oktober, an dem eigentlich die Opfer des Hamas-Angriffs und die verschleppten Geiseln im Vordergrund des Gedenkens stehen sollten. Das Massaker der Hamas ist bei vielen bereits in den Hintergrund der Aufmerksamkeit gerückt. Das zeigt auf bittere Weise, wie weit die Eskalation im Nahen Osten innerhalb nur eines Jahres fortgeschritten ist. 

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Valerie Wendenburg

Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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