Der ESC kann nicht unpolitisch sein
Es ist eine Binsenweisheit, dass der ESC gern unpolitisch wäre, es aber nicht ist. Zu viele Beispiele zeigen, wie der Gesangswettbewerb in der Vergangenheit genutzt wurde, um politische Botschaften zu senden. Er ist ja selbst als politisches Statement gegründet worden.
Die EBU, die Europäische Rundfunkunion, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und hatte das Ziel, den Frieden in Europa zu stärken. Wenn das nicht politisch ist, was dann? So wie man nicht nicht kommunizieren kann, kann ein so grosses Event, das sich als völkerverständigend und friedensfördernd versteht, nicht nicht politisch sein. Auch wenn es nicht die Staaten an sich sind, sondern die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, die die Künstler*innen auswählen.
Es werden zwar immer mal wieder Songtexte beanstandet wegen politischer Botschaften (Grüsse gehen raus an Georgien) und politische Reden und Gesten sind auf der Bühne verboten, doch politisch ist der Contest so oder so. Für Deutschland war der erste ESC 1956 eine Bühne zur Rehabilitierung nach der Nazi-Zeit – es hat einen Holocaust-Überlebenden geschickt, der über die Verdrängung der NS-Vergangenheit singt; kurz nach dem Brexit servierten die anderen Länder Grossbritannien mit null Punkten ab; die belarussische Rundfunkanstalt wurde auf unbestimmte Zeit vom Wettbewerb suspendiert und Russland darf seit Beginn des Angriffskrieg 2022 nicht teilnehmen.
Der ESC ist politisch, ob er will oder nicht. Ein Gewinn und die damit verbundene Austragung des Events haben Gewicht und können vom Gastgeberland gezielt genutzt werden, um das eigene Image aufzupolieren.
Dass im gleichen Jahr von Russlands Ausschluss die Ukraine den Wettbewerb gewonnen hat, lag nicht daran, dass der Auftritt überragend gewesen ist, sondern war ein Zeichen der Solidarität mit der Ukraine der anderen Länder. Und vergangenes Jahr hat Nemos Sieg eine politische Debatte zum Thema Nonbinarität bzw. zum Eintrag eines dritten Geschlechts ausgelöst. Kurz: Der ESC ist politisch, ob er will oder nicht. Ein Gewinn und die damit verbundene Austragung des Events haben Gewicht und können vom Gastgeberland gezielt genutzt werden, um das eigene Image aufzupolieren. Dabei stehen auch nationale Interessen wie Einnahmen durch Tourismus im Fokus.
Politisch umstritten ist am diesjährigen ESC, so wie schon in Malmö, die Teilnahme Israels wegen des Verteidigungskrieges in Gaza mit zahlreichen Toten. Dass Israels Kandidatin Yuval Raphael Überlebende des Massakers durch die Hamas-Terroristen vom 7. Oktober ist, deuten pro-palästinensische Stimmen als politische Instrumentalisierung. Raphael sagte diese Woche in einem Interview, es gehe ihr mit ihrem Auftritt auch darum, an die Hamas-Geiseln zu erinnern, die endlich nach Hause kommen sollen.
Die EBU hat sich ein ziemliches Ei gelegt mit dem – absolut nachvollziehbaren – Ausschluss von Russland und Belarus, weil sich jetzt alle darauf beziehen und fragen: Warum dann nicht auch Israel?
Aus aktuellem Anlass wird von mehreren Seiten ein Boykott Israels gefordert. Sie argumentieren unter anderem mit der verheerenden humanitären Lage in Gaza, die Israel durch Bombardierungen und blockierte Lebensmittellieferungen zu verantworten hat. Ist der Verdacht auf einen Genozid ausreichend, um Israel auszuschliessen?
Die EBU hat sich ein ziemliches Ei gelegt mit dem – absolut nachvollziehbaren – Ausschluss von Russland und Belarus, weil sich jetzt alle darauf beziehen und fragen: Warum dann nicht auch Israel? Interessant ist die Begründung der EBU. Es werden nämlich nicht Länder suspendiert oder ausgeschlossen, sondern die Sendeanstalten. Die russischen Sender wurden laut EBU wegen wiederholter Verstösse gegen Mitgliedschaftspflichten und der Verletzung öffentlich-rechtlicher Werte ausgeschlossen. Aus Sicht der EBU haben sich Israels Sender demnach nichts geleistet, was einen Ausschluss rechtfertigt. Die Handlungen der Regierungen werden ausgeblendet.
Anfeindungen gegen jüdische und israelische Menschen haben seit dem 7. Oktober zugenommen, auch das gehört zur Wahrheit des Konflikts. Seither diskutiert die Welt, wie viel Kritik an Israels Regierung berechtigt ist und wann Aussagen nichts anderes als blanker Antisemitismus sind. Was würde ein Boykott Israels bringen? Israels Regierung würde ihn wohl als Beweis für Antisemitismus auslegen und genauso weiter Krieg treiben wie zuvor. Wird Israel nicht ausgeschlossen, fühlt sich das für die pro-palästinensischen Aktivist*innen wie eine Duldung des israelischen Kriegtreibens an. Egal, wie die EBU es begründet.
Vielleicht stünde der ESC nicht so stark im Fokus, wenn der weltweite Aufschrei und die Ächtung der israelischen Führung angesichts verhungernder Kinder und der Bombardierung Unschuldiger grösser wäre.
Es bleibt ein Beigeschmack. Wann ist es nicht mehr vertretbar, ein Land teilnehmen zu lassen? Sollte es nicht eigentlich nur um die Musik gehen? Und vielleicht stünde der Gesangswettbewerb gar nicht so stark im Fokus, vielleicht würde ihm gar nicht so viel Verantwortung zugeschoben, wenn gleichzeitig der weltweite Aufschrei und die Ächtung der israelischen Führung – angesichts verhungernder Kinder und der Bombardierung Unschuldiger – ausserhalb des Wettbewerbs, in unserem politischen Alltag, grösser wäre.
Wenn am Schluss Nemo als antisemitisch bezeichnet wird, weil Nemo mit einem Boykott ein Zeichen – nicht gegen Jüd*innen, sondern gegen die verantwortliche Regierung Israels – setzen will, sollten wir genau hinhören. Und ein Zeichen setzen: Gegen die Unterdrückung der Meinungsäusserungsfreiheit und gegen eine Regierung, die bei jeder Kritik von aussen die Rassismuskeule auspackt und so die eigene Bevölkerung und den oft berechtigten Protest gegen Antisemitismus für ihre Zwecke missbraucht und instrumentalisiert. Möge also der beste Protestsong gewinnen.