Wer ist die Nächste?
Alltagssexismus und fehlender Respekt vor den Entscheidungen einer Frau füttern ein gesellschaftliches Klima, in dem Aggression und Gewalt gegen Mädchen und Frauen toleriert werden, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Bei diesem Kommentar zum Feministischen Kampftag fällt es mir schwer, nicht persönlich zu werden. Ich muss zwangsläufig daran denken, wie ich als 10-Jährige nach einem (bis heute ungeklärten) Vergewaltigungs- und Tötungsfall in meiner Heimatstadt Angst hatte, zur Bushaltestelle oder nach Hause zu laufen. Ich weiss bis heute den Namen des Mädchens: Adelina. Sie war genauso alt wie ich.
Ich muss daran denken, wie mich als Teenagerin Autofahrer anhupten, ich begrapscht wurde, mich ein Lehrer «Mäuschen» nannte, ich als Praktikantin belästigt wurde, wie ich nach dem Feiern in meiner Studienzeit von der U-Bahnstation nach Hause sprintete, weil ich mich verfolgt fühlte. Und ich muss daran denken, wie mir als Journalistin gesagt wurde, ich solle mich lieber in die Küche stellen, anstatt Artikel zu schreiben. Das Tragische daran: Ich bin froh, dass mir bisher nichts Schlimmeres passiert ist – weil ich die Berichte und Zahlen zu sexuellen Übergriffen, Stalking, Vergewaltigungen und Femiziden kenne (ohne Dunkelziffer, notabene).
Die vermeintlich kleinen Erlebnisse hängen jedoch mit den gravierenden Taten zusammen. Alltagssexismus und fehlender Respekt vor den Lebensentscheidungen einer Frau (Kinder oder kein Kind; Schwangerschaftsabbruch ja oder nein; Vollzeit arbeiten oder Teilzeit; Make-up oder keins; kurze oder lange Haare) füttern ein gesellschaftliches Klima, in dem Aggression und Gewalt gegen Mädchen und Frauen toleriert werden. Gewalt gegen Frauen ist kein Einzelfall, es ist ein weltweites Phänomen. Und fast immer handelt es sich bei den Täter*innen um Männer.
So wie mutmasslich vor wenigen Wochen in Binningen. Eine 38-Jährige Frau wurde ermordet, tatverdächtig ist ihr Ehemann. Es gilt die Unschuldsvermutung. Der Mordfall ist in der Schweiz der vierte Femizid in diesem Jahr – von dem wir wissen. Femizid bedeutet, dass ein Mädchen oder eine Frau aufgrund des Geschlechts umgebracht wird. Aus Frauenhass.
Femizid ist in der Schweiz bisher kein etablierter politischer Begriff. Seine Verwendung wurde zuletzt im Sommer 2020 vom Ständerat abgelehnt. Medien sprechen hingegen inzwischen häufig von Femizid. Warum ist das wichtig? «Wenn man einem Problem keinen Namen gibt, wird es auch nicht angegangen», sagte mir Nadia Brügger, Mitinitiatorin des ersten Rechercheprojekts zu Femiziden in der Schweiz (Stop Femizid), im Interview. «Der Begriff Femizid zeigt die politische Dimension dieser Gewalttaten: Femizide sind politische Verbrechen», sagt Brügger.
Nadia Brügger ist Mitiniatorin des ersten Rechercheprojekts zu Femiziden in der Schweiz und setzt sich dafür ein, dass der Begriff auch offiziell benutzt wird. Im Interview erklärt sie, warum Gewalt gegen Frauen alle etwas angeht.
Apropos Verbrechen. Ein Schwangerschaftsabbruch ist in der Schweiz im Strafgesetzbuch geregelt – er ist also nur unter bestimmten Bedingungen straflos, nicht per se erlaubt. Ein Arzt oder eine Ärztin muss mit der Frau ein «eingehendes Gespräch führen und sie beraten». Frei über ihren Körper und ihr Leben zu bestimmen, ist damit für ungewollt Schwangere nur eingeschränkt möglich. Solch eine Gesetzgebung ist einem Rechtsstaat, der Gleichberechtigung propagiert, nicht würdig.
Über die Hälfte der Männer findet übrigens, die Gleichstellung in der Schweiz sei erreicht, heisst es in einer von der SRG in Auftrag gegebenen Umfrage. Bei den befragten Frauen waren es nur knapp 25 Prozent, die das so sahen. Und wenn ich lese, dass laut Umfrage fast 30 Prozent der befragten Männer einverstanden oder eher einverstanden mit der Aussage sind, die Schweizer Gesellschaft wäre besser dran, wenn mehr Frauen zu Hause bei ihren Kindern blieben, dann haben wir noch einiges zu tun.
Wer meint, Frauenrechte sind in der westlichen Welt unbestritten, irrt. Rechte und Freiheiten, die einmal erkämpft wurden, können wieder verloren gehen.
In Frankreich ist diese Woche etwas Historisches gelungen: Als erstes Land weltweit hat es das Recht auf einen freiwilligen Schwangerschaftsabbruch in der Verfassung verankert. Meine Freude darüber wird allerdings getrübt, wenn ich in die USA schaue, wo Schwangerschaftsabbrüche in vielen Staaten mittlerweile nahezu unmöglich sind.
Wer also meint, Frauenrechte seien in der westlichen Welt unbestritten, irrt. Rechte und Freiheiten, die einmal erkämpft wurden, können wieder verloren gehen. Frauen und Männer sind gleichermassen verantwortlich, diese zu verteidigen und die bestehenden Missstände anzuprangern – und zwar nicht nur am 8. März.
Jetzt unabhängigen Journalismus unterstützen.