«Ich hatte mich sozusagen selbst aus den Trümmern gerettet»
Am westlichsten Rand Algeriens, mitten in der Wüste, liegt Samara. Es ist eines der ältesten Flüchtlingscamps der Welt. Ein Überleben in dieser Hitze ist nur dank der Uno-Hilfe möglich. Doch es gibt dort eine erstaunliche Selbstorganisation. Sogar Kunst ist möglich. Nur: Das reicht nicht.
Das Bild ist buchstäblich atemberaubend: Eine riesige Staubwolke wälzt sich auf Samara zu, eines der ältesten Flüchtlingscamps der Welt. In wenigen Augenblicken wird man kaum mehr die eigene Hand vor dem Gesicht sehen, Menschen werden sich in ihre Häuser oder Zelte verkriechen und warten, bis der Sandsturm vorüber ist. Es ist eines von vielen eindrücklichen Fotos, die der Künstler Mohamed Sleiman Labat (37) hier, am westlichen Rand Algeriens, gemacht hat.
Am heutigen Dienstag wird er an einer Vortragsreihe des Zentrums für Afrikastudien in Basel teilnehmen. Seine Filme werden zudem am 16. und 17. November im Rahmen der Veranstaltungsreihe Culturescapes im Neuen Kino gezeigt. Culturescapes ist ein Kulturfestival, das sich der Förderung des interkulturellen Dialogs verschrieben hat.
Sleiman kam in einem der Flüchtlingscamps in der algerischen Wüste zur Welt und wuchs als Teil der dritten Generation heran, nachdem Tausende von Menschen in den vergangenen knapp 50 Jahren über die algerische Grenze geflohen sind, weil ihr Land, die Westsahara, grösstenteils von Marokko besetzt wurde.
Gleichzeitig wurde ihr Gebiet mit mehreren 1000 Kilometer langen und mit zahllosen Landminen gespickten, mauerähnlichen Wällen überzogen (siehe Karte). Die Sahrauis, wie sie genannt werden, sind so in ihrer Bewegungsfreiheit komplett eingeschränkt.
Dazu kommt seit einiger Zeit der Klimawandel. Die Sommer werden heisser, die Sandstürme heftiger und zahlreicher. Die Schäden, die sie anrichten, sind enorm: Zelte werden zerrissen, Gärten zugedeckt. Und wenn einmal Regen kommt, dann in solchen Mengen, dass gleich alles überschwemmt ist.
Sleiman hatte das Glück, dass er in Algerien studieren konnte. Und er schaffte es, sich trotz allen Entbehrungen seine lebensbejahende Haltung bewahren. «Mal geht es schlecht, mal besser... Ich bin Optimist», sagt Sleiman.
Ein Kunststudio aus Trümmern
Trotzdem oder vielleicht deswegen macht Sleiman auch Kunst. Und Filme. Und Gartenarbeiten, mitten in der Wüste. Das geht, wenn man es clever macht. Nach seinem Literaturstudium kam er zurück nach Samara, wo es 2015 plötzlich Hochwasser gab, während sieben Tagen. «Viele Häuser wurden zerstört, viele Menschen hatten alles verloren. Nur eines gab es zu viel: Trümmer, Abfälle, kaputte Möbel und Autos», schildert er im Gespräch mit Bajour.
Da kam er auf die Idee, sich aus diesen Abfällen ein Kunststudio zu bauen. Nach einem Jahr war das kleine Haus fertig. «Ich hatte mich sozusagen selbst aus den Trümmern gerettet».
Sleiman sagt: «Es war mir wichtig, dieses Erlebnis mit anderen zu teilen, um der Welt zu zeigen, dass wir selbst Veränderungen wollen. Wir wollen nicht von der internationalen Hilfe abhängig sein. Wir wollen unsere Sachen selbst kreieren.» Das sei ein völlig anderes Narrativ als das der Flüchtenden. Schönheit entstehe durch die Kombination der Disziplinen, der Erfahrung, der Tradition, des Experiments und der Forschung. «Ich selbst wurde zu einem Künstler, Architekt und Forscher.»
Ja, die Selbsthilfe existiert. Es bestehen Initiativen von Einzelpersonen, Gruppen, Familien. Unterstützung käme auch von Bekannten und Verwandten aus der Diaspora, also von Menschen von irgendwo in Europa. Dank dieser Initiativen seien auch die hiesigen Gemüsegärten entstanden. Dies mit dem Ziel, zu frischem Gemüse zu kommen, welches von der Uno oder anderen Hilfsorganisationen nicht geliefert werden kann.
In Samara sei ein dem Klima angepasstes Garten-Modell entwickelt worden, bei dem Wasser und Sand zusammen in wasserdichten Schalen gehalten werden. Dazu kommen Schattendächer. «Das war natürlich ein Lernprozess.» Sie seien von namhaften Fachleuten unterstützt worden.
«Zu wenig Perspektiven»
Trotz dieser wunderbaren Initiativen sieht Sleiman ein Problem: «Für die Jugendlichen bietet das zu wenig Perspektiven. Es gibt eine wachsende Frustration unter ihnen. Dieses Dasein sollte nicht die Norm sein. Es muss zu einem Ende kommen.»
Hamdi Toubali, zuständig für internationale Beziehungen der Befreiungsbewegung Polisario, sagte schon vor drei Jahren gegenüber der NZZ: «Das grösste Problem der sahrauischen Jugend ist die Hoffnungslosigkeit. Ihr Vertrauen in die Uno ist aufgebraucht. Die Jugend drängt den Polisario in einen neuen Krieg». Dieser Krieg ist nach dem Bruch des Waffenstillstandes im November 2020 faktisch wieder da.
Dass die sahrauische Bevölkerung aus ihrem Land vertrieben wurde, sei ein politisches Problem. Die Situation müsse sich grundlegend ändern, so Sleiman. Es müsse ein eigener Staat Westsahara gegründet werden. «Wir sind ein Wüstenvolk, wir haben hier seit hunderten von Jahren gelebt.» Sie seien als Nomaden mit Tieren herumgezogen,hatten nicht viel, aber zum Überleben reichte es. Damals gab es die Möglichkeit, Richtung Meer zu ziehen, wo die Feuchtigkeit höher ist und wo auch Grundwasser vorhanden ist. Das ist heute wegen der marokkanischen Besetzung nicht mehr möglich.
Es sei wichtig, dass die Öffentlichkeit die Fakten kenne, sagt Sleiman. Das Basler Hilfswerk terre des hommes schweiz schreibt dazu: «Die Sahrauis im besetzten Gebiet sind Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, die von Organisationen wie Human Rights Watch oder der Uno-Kommission gegen Folter dokumentiert sind. Ausländische Journalisten und Menschenrechtsbeobachter werden nicht in das Gebiet hereingelassen.»
Thema ist auch immer wieder die Ressourcenausbeutung im besetzten Gebiet durch marokkanische und ausländische Firmen. Marokko verfügt zum Beispiel – mit und ohne dem Gebiet der Westsahara – über riesige Phosphatvorkommen. Dieser Rohstoff wird für die Düngerherstellung gebraucht. Ressourcenausbeutung in der Westsahara ist laut internationalem Recht nur mit Einverständnis des sahrauischen Volkes legal.
«Es ist wichtig, dass die Öffentlichkeit uns zuhört, was wir wollen», sagt Sleiman. Deshalb ist er sehr dankbar, dass er bei der Veranstaltung Culturescapes in Basel seine Filme zeigen kann.
Die Westsahara, nördlich von Mauretanien und westlich von Algerien, ist seit 1975 von Marokko besetzt. Der Grossteil der Sahrauis, geschätzt 174'000 Menschen, lebt in Flüchtlingslagern in der Wüste Algeriens. In einem dieser Camps lebt auch Mohamed Sleiman Labat, Fotograf, Künstler, Multitalent.
Der zweite, kleinerer Teil der sahurischen Bevölkerung lebt im besetzten Gebiet südlich von Marokko. Dort ist Journalist Mohamed Mayara unterwegs. Wir trafen ihn ebenfalls in Basel zu einem Gespräch. Maraya arbeitet bei Equipe Media, wo er als Journalist und Menschenrechtsaktivist für die Sichtbarmachung der Menschenrechtverletzungen durch den marokkanischen Staat kämpft. D
er Mitgründer des Journalist*innen-Kollektivs Equipe Media wurde schon oft verfolgt, verhaftet, an seiner Arbeit gehindert und erhielt Todesdrohungen. Andere Mitglieder von Equipe Media sitzen als politische Gefangene langjährige Haftstrafen ab. Gemäss dem Journalisten Mayara hat Marokko jedes Jahr die Zahl ihrer Siedler erhöht, seit 1991 hat sich diese Zahl verdoppelt. «Fast alle Städte haben Aussenbezirke mit marokkanischen Zeltstädten», sagt Mayara.
Damit erhöhen sie die Chance, dass das Referendum für die Selbständigkeit Westsaharas abgelehnt wird. Dieses wurde von der Uno zugesagt, aber nie durchgeführt, weil Marokko Verzögerungstaktik betrieb. «Wir sind indigene Sahrauis, aber wir sind wegen der marokkanischen Truppen eine Minderheit.» Mayara wurde schon oft verfolgt, verhaftet, an seiner Arbeit gehindert und erhielt Todesdrohungen. Andere Mitglieder von Equipe Media sitzen als politische Gefangene langjährige Haftstrafen ab.
Werde Bajour-Member und untersütze uns.