Gespräche am Ochsner-Kübel

In ihrer Kindheit diskutierte Kolumnistin Cathérine Miville mit ihrem Vater Carl über Gott und die Welt – und er hatte immer eine Antwort parat. Heute würden die beiden über den Kulturförderpreis, das Erstarken von rechten Ideologien, über Intoleranz und Ausgrenzung reden, vermutet sie.

Mit Schiebedeckel, Rollenlagerung und Fanghaube.
Der Ochsner-Kübel gehörte in Basel-Stadt in jeden Haushalt. (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Fotograf: Unbekannt / Ans_09138-023-AL / Public Domain Mark)

Bajour hat mich kürzlich tatsächlich zu meinem allerersten Besuch auf Tiktok verführt. Mir wurde gezeigt, wie ich in kürzester Zeit aus Zeitungspapier ein Böxli falten und in ein Kompostierkessli legen kann, damit beim Entsorgen von Öko-Abfällen im Kompost nichts mehr kleben bleibt. Ein super Tipp – für Haushalte, in denen noch gedruckte Zeitungen gelesen werden.

Catherine Miville
Cathérine Miville – Ma ville

Cathérine Miville ist in Basel geboren und aufgewachsen. Sie unternahm ihre ersten Karriereschritte am Theater Basel, später lebte sie lange Zeit in Deutschland, führte an verschiedenen Häusern und bei Dieter Hildebrandts Sendung «Scheibenwischer» Regie und leitete zuletzt als Intendantin das Stadttheater Giessen. Als vor drei Jahren Mivilles Vater, der Basler SP alt Ständerat Carl Miville-Seiler, starb, beschloss sie, nach Beendigung ihrer Tätigkeit als Intendantin, wieder in Basel zu leben. In ihrer neuen Kolumne «Ma ville» wirft die 70-Jährige regelmässig einen genauen Blick auf das kulturelle Leben in der Stadt und reflektiert, wie sich Basel entwickelt hat.

Den Ochsner-Kübel mit Zeitungspapier auszustaffieren, war schon in meiner Kindheit ein wichtiges Thema bei uns zu Hause. Dieses Prozedere lag ganz in den Händen meines Vaters Carl, der für praktische Tätigkeiten gänzlich unbegabt war. Aber diese eine und einzige feste Aufgabe im Haushalt erledigte er minuziös. Ganz ohne Tiktok-Anleitung faltete er grossformatigen Bögen aus dem «Baslerstab» so, dass er sie dann Blatt für Blatt exakt in den Eimer einlegen konnte.

Carl blockierte die Küche während seiner zentral wichtigen Tätigkeit komplett – mittags, wenn meine Mutter eigentlich kochen musste. So verbannte sie das Ritual «Mistkübel-Ausstaffieren» oft in den Flur. Für mich war das toll. Denn während mein Vater seine Hausarbeit zelebrierte, hatte er ungestört Zeit für meine Fragen – genau bis zu den Nachrichten.

Alt National- und Ständerat Carl Miville, links, und Nationalrat Beat Jans, rechts, blättern in der ersten Ausgabe der "TagesWoche" im Unternehmen Mitte, am Donnerstag, 27. Oktober 2011, in Basel.
Vielleicht hat Carl Miville die erste Ausgabe der Tageswoche, die er hier 2011 zusammen mit Beat Jans ansieht, auch zum ausstaffieren des Ochsner-Kübels verwendet. (Bild: Keystone /Georgios Kefalas)

Heute würden wir im Flur wahrscheinlich über den Basler Kulturförderpreis reden und natürlich auch immer wieder über das Erstarken von rechten Ideologien, über Intoleranz und Ausgrenzung.

Carl hatte bis ins hohe Alter die seltene Fähigkeit, sehr komplexe Zusammenhänge nachvollziehbar darlegen zu können. Sicher hätte er in den letzten Monaten versucht, mir die Hintergründe zu erläutern, die zum latenten Fanatismus im gesellschaftlichen Dialog führten und warum diese Strömungen selbst oder gerade auch in der Schweiz in der Kulturszene und an Universitäten so präsent sind, insbesondere wenn es um Israel geht. Dabei würde er selbstverständlich auch das unfassbare Elend aller von diesen so langjährigen Auseinandersetzungen betroffenen Menschen im Fokus haben.

«Manchmal bin ich froh, dass Carl diese Entwicklungen nicht mehr miterleben muss.»

Carl ärgerte sich in seiner politischen Arbeit schon sehr früh über die Haltung seiner Linken zum Existenzrecht von Israel, was jedoch nicht bedeutet, dass er das politische Handeln der jeweiligen Regierungen vorbehaltlos guthiess.

Dennoch brachte ihm seine bedingungslose verbale Verteidigung dieses Rechtes häufig Ärger ein: So beispielsweise als er 1973 die damalige POCH (Progressiven Organisationen der Schweiz) in einem Zeitungsartikel eine «Pogrom-Organisation» nannte, die allemal in Begeisterung ausbrechen würde, wenn es gegen die Juden gehe. In einer Grossrats-Debatte zu dieser Auseinandersetzung beschimpfte ein POB-Parlamentarier ihn dann als «weissrassistische Sau». Diese Umgangsformen gibt es also nicht erst, seit der politische Diskurs auch über Social-Media-Kanäle ausgetragen wird und breite gesellschaftliche Kreise diese Plattformen entsprechend nutzen. 

Der Streit ging damals noch bis vors Bundesgericht, was heute eher unwahrscheinlich wäre. Die POCH unterlag letztendlich klar, und das Gericht in Lausanne habe damals die POCH indirekt als antisemitisch klassifiziert, schreibt Daniel Gerny am 9. November 2023 in seinem durchaus bedenkenswerten NZZ-Artikel mit dem Titel «Ein intransparentes Netz orchestriert die Proteste gegen Israel – wer dahintersteckt und wie es dazu gekommen ist».

Zur heutigen Situation im linken Lager konstatiert er: «In den 1990er-Jahren, nachdem sich die Poch aufgelöst hatte und viele Parteimitglieder zur SP und zu den Grünen wechselten, (Anmerkung der Autorin: und später dann teilweise weiter zu BastA!) hielten dort vermehrt antizionistische Tendenzen Einzug. […] antizionistische Töne wurden bis weit ins sozialdemokratische Lager salonfähig, wie die breite Unterstützung für die BDS Bewegung zeigt.»

So sehr ich unsere Gespräche am Ochsner-Kübel, am Esstisch und später auch am Telefon vermisse – manchmal bin ich froh, dass Carl diese Entwicklungen nicht mehr miterleben muss.

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