Nie wieder ist jetzt!
Vom 9. auf den 10. November wird alle Jahre an die Reichspogromnacht 1938 gedacht. Der Satz: «Nie wieder» hat in Anbetracht des ansteigenden Antisemitismus eine ganz neue Dimension. Ein Kommentar
Gestern Nacht waren die Synagogen in der Schweiz hell erleuchtet. 85 Jahre nach der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wurde an die nationalsozialistischen Übergriffe auf Jüd*innen gedacht. Auch in Basel fanden Gedenkveranstaltungen und Mahnwachen statt.
In diesem Jahr wurde aber nicht nur zurückgeblickt, sondern auch mit Sorge auf die Gegenwart und in die Zukunft geschaut. Was noch vor Kurzem unvorstellbar schien, ist seit einem Monat wieder Realität. Menschen haben wieder Angst, bedroht zu werden und Gewalt zu erfahren, nur weil die jüdisch sind. Am 7. Oktober wurden mehr als 1400 Menschen in Israel durch die Terrororganisation Hamas ermordet, über 240 Erwachsene und Kinder wurden als Geiseln verschleppt. Als Folge dieses Angriffs und des darauffolgenden Kriegs in Israel und Palästina erleben auch die Jüd*innen in der Schweiz einen Anstieg des Antisemitismus.
Gedenkanlässe können nur unter grossen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Jüdischen Kindern wird von Schulleitungen empfohlen, ihre Kippas unter Kappen zu verstecken. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund hat bekannt gegeben, dass im vergangenen Monat fast so viele antisemitische Vorfälle gemeldet wurden wie sonst in einem Jahr. Dabei handelt es sich konkret um Schmierereien wie Hakenkreuze in Kombination mit Davidssternen oder sogar der Schriftzug «Tod den Juden».
Am Dienstag hat in Basel eine unbekannte Person nahe der Bushaltestelle Eulerstrasse, vis-a-vis der Synagoge, eine «Art Tasche deponiert und angezündet». Offenbar eine Drohung. Die Kriminalpolizei untersucht den Fall. Eine jüdische Institution in Basel erhielt laut Staatsanwaltschaft eine Drohung erpresserischer Art.
Gegenüber Bajour wollten sich einige Jüd*innen und auch der Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Basel nicht mehr öffentlich äussern – aus Sicherheitsgründen. Stattdessen melden sich Antisemit*innen unverhohlen zu Wort, auf Social Media, aber auch auf der Strasse, an Kundgebungen oder auf Schulhöfen, anonym aber oft auch mit vollem Namen. Antisemitismus scheint wieder salonfähig zu sein. Und er kam auf leisen Sohlen. Der Israeli Oded Fluss erlebt in der Schweiz einen sehr subtilen Antisemitismus, wie er Bajour erzählt.
Die Reichspogromnacht fand im nationalsozialistischen Deutschland in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 statt. Die gezielten Gewaltaktionen gegen die jüdische Bevölkerung können rückblickend als der Beginn der systematischen Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums gesehen werden.
In dieser Nacht wurden jüdische Geschäfte geplündert und zerstört, Synagogen brannten nieder. Die Polizei griff nicht ein, nur wenige Menschen halfen ihren jüdischen Mitbürger*innen. In dieser Nacht starben mehr als 1000 Jüd*innen, viele nahmen sich das Leben. Ab dem 10. November folgten Deportationen jüdischer Menschen in Konzentrationslager. Mindestens 30.000 Menschen wurden verhaftet und verschleppt.
Ich bin in Deutschland aufgewachsen, eine halbe Stunde entfernt vom ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen. Dort ist Anne Frank im Holocaust umgekommen, das Mädchen, das vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten so gerne bei ihren Verwandten in Basel zu Besuch war. Mit 13 Jahren besuchte ich Bergen-Belsen mit der Schulklasse, es kamen Zeitzeug*innen in den Unterricht und erzählten eindrücklich von ihren Erlebnissen aus dem Holocaust. 85 Jahre später gibt es kaum noch Überlebende, die von ihren Erfahrungen berichten können.
Wie kann also heute Geschichtsbewusstsein vermittelt werden? Erziehungsdirektor Conradin Cramer schreibt Bajour: «Erschreckenderweise wissen einige Schülerinnen und Schüler heute nicht mehr viel über den Holocaust.» Teilweise werde ihnen zu Hause nicht vermittelt, «was es im letzten Jahrhundert in Europa bedeutete, jüdisch zu sein». Die Schule sei besonders gefordert.
Rassistische und antisemitische Vorfälle kommen auch an Schweizer Bildungseinrichtungen immer wieder vor – gerade heute in Zeiten des Kriegs in Israel werden vermehrt Vorfälle gemeldet. Wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken, haben wir die Community gefragt.
Auch die Medien haben eine Verantwortung, wenn es darum geht, Wissen zu vermitteln, nachzufragen und einzuordnen. Dieser wenig klickträchtige Informationsauftrag wird in Zeiten von Stellenabbau bei zahlreichen Medienhäusern immer schwieriger zu erfüllen sein.
Letztendlich aber ist jede*r einzelne von uns im alltäglichen Leben gefordert, hinzuschauen und Zivilcourage zu zeigen, um dem wieder aufkommenden Antisemitismus entgegenzuwirken. Der 85. Jahrestag der Novemberpogrome mahnt uns an unsere Verantwortung. Die Worte: «Nie wieder ist jetzt» sind schnell gesagt. In Zeiten wie diesen sind es die Taten, die zählen.
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